„Shhhh“, schallt es durch die Lautsprecher. Blitzartig schießen laminierte „Quiet-Please-Pappschilder“ in die Luft. Schon wieder. Das Publikum stößt heute an seine Grenzen. Diese Veranstaltung widerstrebt den tiefsten Fan-Neigungen.
Es gibt keine Gesangseinlagen, kein gemeinsames Einschunkeln und kein rhythmisches Gruppen-Klatschen. Das Jubeln begrenzt sich auf die Spielunterbrechungen. 1100 Leute, mit gewaltigem Applaus-Potential, warten auf jeden Eck- oder Freistoß, um ihrem Verlangen freien Lauf zu lassen.
Eine Schulklasse in den vorderen Reihen wedelt dennoch fleißig mit schwarz-rot-goldenen DFB-Fanclub-Fahnen – immerhin spielt die Nationalmannschaft. Es gibt wieder eine Unterbrechung. Die „Deutschlaaaaand, Deutschlaaaand“-Sprechchöre setzen ein.
Wechselspiel der Lautstärken
Dann pfeift der Schiedsrichter wieder an und das Publikum schweigt. Es ist ein dauerhaftes Wechselspiel zwischen Spielgeschehen und Stadionatmosphäre. Am meisten wird auf dem Platz geredet. Die Spieler eröffnen jeden Zweikampf mit dem spanischen Wort „voy“, übersetzt „Ich komme“.
Eine Warnung und Selbstschutz zugleich. Denn die Protagonisten sind blind, nicht selten endet ein Dribbling in einem Zusammenstoß. Und vor heimischer Kulisse wird ein Nasenbeinbruch eher in Kauf genommen.
Die Blindenfußball-Europameisterschaft findet dieses Jahr in Berlin statt. Um einenn gewöhnlichen Kunstrasen-Platz herum wurde eine Open-Air-Arena errichtet. Dort kämpft die Deutsche Mannschaft um den Einzug ins Halbfinale.
Pässe sind Mangelware
Es gibt Freistoß. Ein Betreuer klopft beide Pfosten ab. Das metallische Klirren gibt die Richtung vor. Der deutsche Spieler Taime Kuttig legt sich den Ball vor, zieht nach rechts und schießt. Der englische Torhüter hat den Ball. Das Publikum stöhnt. Und wieder erklingt das Lautsprecher-„Shhhh“.
Deutschland braucht einen Punkt, um ins Halbfinale einzuziehen. Allerdings ist England unangefochtener Tabellenerster und führt seit der dritten Minute. Die „Three Lions“ haben bisher in keiner Partie ein Gegentor kassiert.
Dabei sind die Spiele meistens torreich, in drei Spielen hat England bereits 19 Treffer erzielt. Nur Pässe sind Mangelware. Nach wenigen Ballkontakten wird direkt zum Dribbling angesetzt.
Ali Can Pektas ist viermaliger Torschützenkönig der Blindenfußball-Bundesliga. Er lässt den Ball wie eine Flipper-Kugel zwischen seinen Füßen hin und her hüpfen. Bei der Orientierung muss er sich auf seinen Hörsinn verlassen.
Pektan folgt einem Rasseln im Inneren des Balls. Dort befinden sich mehrere Metallkappen, in denen wiederum Kügelchen den Lärm erzeugen. Doch ganz auf sich allein sind die Spieler nicht gestellt. Kommandos kommen vom Trainer und Betreuern.
Auch der Torhüter gibt Anweisungen. Er ist die einzige sehende Person auf dem Feld, jedoch mit einer limitierten Einflusssphäre. Sein Strafraum ist nicht breiter als eine Kneipentheke. Das komplette Feld misst 40 Meter in der Länge und 20 Meter in der Breite. Die Tore haben Feldhockey-Format.
Den Tränen nahe
Trotzdem schafft es die Deutsche Mannschaft nicht, den Ball im Gehäuse unterzubringen. Kurz vor Schluss führt der Gegner bereits 3:0. Doch die Engländer begehen ihr sechstes Foul – Strafstoß für Deutschland. Werden mehr als fünf Fouls in einer Halbzeit verübt, gibt es einen Acht-Meter-Strafstoß. Doch auch diese Chance bringt keinen Erfolg.
Die Deutschen scheiden aus. Ali Can Pektas ist den Tränen nahe. Die Mannschaft war mit großen Ambitionen angereist, hatte auf den Titel gehofft. Im Spiel um Platz Fünf kann sich das Team von Ulrich Pfisterer immerhin noch für die Weltmeisterschaft qualifizieren.
Integration im DFB?
Pfisterer ist schon lange dabei. Seit 2007 steht der gebürtige Berliner am Seitenrand der Nationalmannschaft. Sportlich hat sich in dieser Zeit vieles entwickelt. Doch die Mannschaft pocht auf mehr Unterstützung und Anerkennung.
„Wir sind auf einem guten Weg Strukturen zu schaffen“, sagt Teammanager Rolf Husmann. Der DFB fördert bisher nur die Blindenfußball-Bundesliga, nicht die EM. Für die Spieler entstehen keine Mehrkosten, aber auch kein zusätzlicher Verdienst. Andere Länder sind da weiter.
„Die Engländer sind Vollzeit-Profis“, sagt Pfisterer. Das englische Team gehört fest zum Dachverband der Football Association (FA). Ein Vorbild für die Deutschen Spieler. „Das würde ich mir wünschen, dass wir sobald wie möglich in den DFB integriert werden“, sagt Taime Kuttig. Immerhin können die Fans jetzt wieder den Lautstärkepegel aufdrehen.