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Stumpf und schwarz sind die Nägel, die über das ver­gilbte Papier strei­chen. Magere Finger ertasten zit­ternd die Umrisse der Ver­gan­gen­heit, die großen Let­tern. Heleno 1, Chile 0“, steht da geschrieben, oder Heleno, das Juwel“. Die Krallen reißen am Papier­rand, langsam, rit­schhhhhh, ein sanftes Geräusch, ein Streifen löst sich ab, zer­klüf­tete Kanten. Die dre­ckige Hand zer­knüllt das Papier, führt es andächtig zum Mund. Kauen. Schlu­cken.

Wonach schmeckt die Ver­gan­gen­heit? Wonach schmeckt der Ruhm? Wie schmeckt er, Heleno?
Wel­chen Geschmack hatte dein Leben? Und wie soll man, bit­te­schön, dar­über schreiben?

Ein junger kolum­bia­ni­scher Jour­na­list namens Gabriel García Már­quez hat es als Erster ver­sucht. Als Fuß­ball­spieler“, schrieb er, schwankt Heleno de Freitas zwi­schen den Extremen. Aber er ist mehr als ein Mit­tel­stürmer. Er gibt den anderen ständig Anlass, schlecht über ihn zu reden.“

Hun­dert Jahre Ein­sam­keit“ – das Buch, mit dem García Már­quez später berühmt wurde, es hätte auch von Heleno de Freitas han­deln können. Von dem Mann, der hier seine Ver­gan­gen­heit ver­schlingt, ohne über­mä­ßige Gier. Streifen für Streifen. Minu­ten­lang. Wie viele Minuten sind das gewesen, Heleno? Zehn? Zwanzig? Hun­dert? Bis an der kalk­weißen Wand nur noch ein paar Fetzen kleben, unle­ser­lich und häss­lich.

Der Irre rülpst.

Hier also, Heleno, endet deine Geschichte – in Zimmer 25 der Casa de Saúde São Sebas­tião, Ave­nida São Sebas­tião, Bar­ba­cena, im bra­si­lia­ni­schen Bun­des­staat Minas Gerais. In einem kärg­li­chen Dop­pel­zimmer.

Bra­si­liens größtes Talent vor Pelé

Wer bist du, Heleno de Freitas? 1920 geboren, 209 Tore in 235 Spielen für Bota­fogo, die ersten beiden im April 1940. Profi auch in Argen­ti­nien, Kolum­bien, dann wieder in Rio de Janeiro. Heleno: Sohn der rei­chen, weißen Ober­schicht, aus­ge­bil­deter Anwalt, Doktor des Rechts gar. 1,82 Meter. Ein Riese damals. Gesicht wie ein Film­star, Woma­nizer, Prinz von Rio, tags Unglaub­li­ches auf dem Feld, nachts noch Unglaub­li­cheres mit den Frauen, Hitz­kopf, Bohe­mien, Bra­si­liens größtes Talent vor Pelé. Und der große, alles ver­schlin­gende Traum: der Traum vom Mara­canã. 18 Län­der­spiele nur, und keine WM. Spitz­name: der ver­fluchte Prinz. Und sonst? Drogen, viele Drogen, Alkohol, Girls, viele, viele Girls, und noch viel mehr glei­ßende Wut, ein Mann wie ein Vulkan, der Aus­bruch, die Krank­heit, das viel zu frühe Ende.

Wer bist du, Heleno?

Geschichte voller Fra­ge­zei­chen, große, tra­gi­sche Story aus einer Zeit vor dem Fern­sehen, das immer alles erklären will. Geschichte aus dem gol­denen Rio der Vier­ziger, der glit­zernden Stadt der steilen Hügel und der tiefen Abgründe.

Film­ma­te­rial gibt es also nicht. Gut so. Wir suchen hier keine Fakten. Wir suchen: Heleno. Am Strand – wo sonst? – haben sie dich ent­deckt, knö­chel­tief im weißen Sand, Apfel­sinen mit den Füßen jon­glie­rend. Dieser schmale Beau! Unwi­der­steh­lich schon der Charme des Jungen, des Teen­agers Heleno de Freitas.

Vom Sand weg ver­pflichtet ihn der Klub, fortan trägt der Junge den weißen Stern auf dem Herzen. Bald schon ist er selbst eine est­rela, ein Star, eine Sen­sa­tion in der Mil­lio­nen­stadt, die sich so sehr reckt und streckt in jener Zeit, da die Moderne Süd­ame­rika über­spült.

Aber genug davon. Schauen wir unserem Helden ins Gesicht. Mut ist dabei hilf­reich. Die Kon­turen sind wie mit dem Messer gezogen, die Brauen eine ein­zige Bedro­hung, tief und geschwungen und abschätzig, dicht zieht es sie zuein­ander, ganz eng. Nase: gerade und nach vorne drän­gend, wie der Schnabel eines Raub­vo­gels. Heleno: ein Habicht mit gegelten Haaren. Der Scheitel ist ihm schnur­ge­rade ins Haar gefahren, wie ein Blitz, wie eine Narbe. Und dann: die Lippen. Vor allem: diese Ober­lippe! Kunst­voll geschwungen wie eine Cel­lo­z­arge. Wie die Lippe einer wun­der­schönen Frau. Sorgsam ver­borgen dahinter die schiefen Front­zähne, die Fratze.

Ein Gesicht, das man nicht ver­gisst, irgendwo zwi­schen Bogart, Bel­mondo und Ban­deras.

In den dunklen Augen kon­zen­triert sich alles. Mit Begierde bli­cken sie auf die Welt, aber auch mit Miss­trauen und Ver­ach­tung. Die reine Melan­cholie. Schauen sie schon bis ins Mara­canã?

Der Dandy pflegt sein Image

Ich weiß, was ich will“, sagen die Augen, sagt Heleno, Tore, schmale Taillen, Cadil­lacs.“ Der Dandy hegt sein Image. Ich bin mein Image, dahinter ist nichts“, wird er einmal sagen. Schüt­zende Phrasen. Dabei ist er reich und gebildet. Heleno: der Playboy mit Ziga­rette im Mund­winkel und Gold­kett­chen am Hand­ge­lenk. Mit dem Clube dos Cafa­jestes, dem Klub der Filous“, einer Clique junger Piloten, Banker und Ärzte, zieht er durch die Nächte Rios, setzt im Cas­sino Atlân­tica auf Rot oder Schwarz, lauscht den krei­schenden Jazz­ka­pellen und Swin­g­or­ches­tern und bringt die Töchter der Rei­chen um den Ver­stand.

Bester Ort dafür: der Golden Room des Copa­ca­bana Palace, fünf Sterne direkt an der Strand­pro­me­nade, ein Palast aus ita­lie­ni­schem Marmor, sieben traum­weiße Stock­werke, Blick aus den hohen Fens­tern auf das berühmte Wel­len­pflaster, den Sand, all die Schön­heit. Das Palace, das erste Haus am Platze, wo die inter­na­tio­nalen Stars ein­kehren, das ist Helenos wahre Heimat. Hier spielen sie ihm Abend für Abend seinen Lieb­lings­song: My Foo­lish Heart“.

Auf dem Spiel­feld tut er Dinge, die sie noch nie gesehen haben, nicht mal in Bra­si­lien. Einmal stoppt er den Ball mit der Brust, 20 Meter vor dem Tor, lässt sich ins Hohl­kreuz fallen, dass man es kna­cken zu hören meint, und läuft dann, den Ball uner­reichbar auf dem Bota­fogo-Stern balan­cie­rend, bis ins Tor.

Nichts scheint unmög­lich in diesen gol­denen Tagen. Für Heleno wie für Rio. Der Welt­krieg endet, eine neue Archi­tektur ist im Ent­stehen. Wäh­rend Heleno mit dem weißen Stern auf schwarzer Brust der Meis­ter­schaft, der Carioca, hin­ter­her­hetzt, die doch alle von ihm erwarten, mit der es aber nicht klappen will, hat er längst das viel grö­ßere Ziel im Sinn. Das Mara­canã, das größte Sta­dion der Welt, das die Stadt­väter für die Welt­meis­ter­schaft 1950 bauen lassen. 200 000 Men­schen! Sie alle werden ihm dabei zusehen, wie er die Seleção zum ersten Titel führt, werden ihm hul­digen, wenn er sich den Jules-Rimet-Pokal über den Nar­ben­scheitel schwingt. Es wird seine WM, und so spricht er auch von ihr, so prahlt er vor allen.

Eine Kost­probe der süßen Zukunft trägt er schon jetzt immer bei sich, in einem kleinen, braunen Fläsch­chen, das es in jeder Apo­theke gibt. Ah, dieser ver­teu­felte Äther“, wird Dro­gen­papst Hunter S. Thompson seinen Anti-Helden Raoul Duke später sagen lassen. Man ver­liert alle grund­le­genden moto­ri­schen Fähig­keiten, ver­schwom­mene Sicht, feh­lender Gleich­ge­wichts­sinn, taube Zunge. Dein Ver­stand wendet sich mit Grausen ab.“

Süß und betäu­bend wie der Äther ist auch die Copa­ca­bana, das Para­dies der Ver­su­chung. Kleine Meer­prin­zessin“ nennen sie ihre prunk­volle Bucht, und Heleno ist ihr Prinz. Milde blickt Christus, der andere Super­star, von seinem Hügel herab auf das größte Irr­licht der Stadt.


Der Raub­vogel und das Holz­kinn: Bei einem Spiel zwi­schen Bota­fago und Flu­mi­nese im Jahr 1947 treffen die besten Stürmer ihrer Zeit auf­ein­ander: Heleno de Freitas und Ademir de Menezes.

Helenos Tage scheinen mehr als 24 Stunden zu haben, mor­gens spielt er, wenn er Lust hat, Tur­niere am Strand, guckt sich schon mal die besten Mäd­chen aus, nach­mit­tags trai­niert er ein biss­chen mit seinem Team, und abends – nun, abends beginnen die langen, langen Nächte von Rio.

Bei Bota­fogo lassen sie ihm, dem craque pro­blema, Bra­si­liens erstem Skan­dal­profi, ohnehin alles durch­gehen, die wüsten Belei­di­gungen der Kol­legen, die durch­zechten Nächte. Ein­fa­cher Grund: Sie brau­chen ihn. Den spie­lenden Mit­tel­stürmer. Den Super­tech­niker. Den manisch Ehr­gei­zigen. Den Irren.

Das Spiel ist doch das Leben“

Hat dich der Äther kaputt­ge­macht, schöner Heleno, oder war es das ver­dammte Mara­canã? Die sau­dade, die große bra­si­lia­ni­sche Sehn­sucht, ver­zehrt einen, wenn man nicht auf­passt. Sócrates, den anderen genialen doutor müsste man jetzt fragen können, doch auch der ist schon tot, noch so ein ver­fluchter Prinz, zugrunde gegangen an der Süße des Lebens, die er sich am liebsten mit Limetten und Eis­wür­feln rei­chen ließ.

Der Cai­pi­rinha! Die Frauen! Du musst es dir nehmen, das Leben. Du darfst es nicht an dir vor­bei­gehen lassen, wenn du am besten Strand von Rio liegst, die weißen Mauern des Palace im Rücken, und wenn es in einem knappen Bade­anzug steckt. Zwei Mög­lich­keiten: Mach sie zur Kunst, diese atem­lose Schön­heit, so wie später Vini­cius de Moraes und Tom Jobim, als die junge Heloísa Eneida Menezes Paes an ihnen vor­bei­schwebt, das Girl from Ipanema“. Oder stell dich ihr in den Weg und finde heraus, ob ihr Atem auch so süß schmeckt wie der Duft aus dem braunen Flakon – viel­leicht noch ein biss­chen süßer. Und das ist, natür­lich, immer der Weg gewesen des gie­rigen Habichts namens Heleno.

Es ist ihm dabei allzu ernst. Sie sagen, es ist nur ein Spiel, aber das Spiel ist doch das Leben!“ So klagt, so wütet Heleno, der Beses­sene. Warum nur denkt keiner so wie er? Daran liegt es doch schließ­lich, dass sie immer noch keine Meis­ter­schaft gewonnen haben. Woran sonst?

Die Spieler sollten sich vor jedem Spiel eine Oper ansehen“, sagt er. Das ist doch der Fuß­ball: eine groß­ar­tige Insze­nie­rung, eine Show. Und er ihr Mit­tel­punkt. Er fühlt sich allen über­legen, logisch, so ist er ja auf­ge­wachsen, der Sohn des Plan­ta­gen­be­sit­zers, der Pri­vat­schüler, der Anwalt. Natür­lich aber hat keiner der pro­le­ta­ri­schen Banausen auf ihn gehört. Warum also erwarten sie, dass er einem schlecht gepassten Ball hin­ter­her­wetzt wie ein lau­siger Stra­ßen­köter? Warum haben sie sich gegen ihn ver­schworen? Wenn er zwei Tore schießt, kas­sieren sie drei, sie neiden ihm seinen Ruhm, seine Kunst, seine Frauen.

Als Heleno, das Genie, den ent­schei­denden Elf­meter ver­schießt, der Bota­fogo die Meis­ter­schaft kostet, geht er, zorn­be­bend wie nie, auf die Team­kol­legen los, sie haben es ver­bockt, wer sonst, am Ende sitzt er einsam unter der Dusche, neben ihm nur noch ein pitsch­nasses Ego.

Gilda! Gilda!“, rufen ihm längst die geg­ne­ri­schen Fans hin­terher, und meinen: die neu­este Rolle von Rita Hay­worth, quasi: ori­ginal drama queen. Sie haben den wunden Punkt erkannt: die Männ­lich­keit. Den Zorn. Das Ich.

Und dann sitzt ihm sein Prä­si­dent Car­lito Rocha gegen­über. Heleno hört die Worte nicht, die aus seinem Mund kommen: Du bist ein Star, aber wir ver­kaufen dich an Boca.“ Wie? Boca?

Wie in Trance schleicht Heleno in die Kabine. Da geht er“, ätzt einer der Nichts­könner: Der, der vergaß, dass er nur ein Fuß­ball­spieler war.“ Aber Heleno kann, muss auch hier noch einen drauf­setzen. Ich bin kein Fuß­ball­spieler“, zischt er, ich bin ein Bota­fogo-Spieler.“

Woher die Wut, Heleno?

Und auf wen?

Argen­ti­nien jeden­falls wird ein Desaster, das erste von vielen. Zum Trai­ning erscheint der Prinz von Rio im langen Win­ter­mantel, schwei­ne­kalt ist ihm. Die anderen schüt­teln nur den Kopf. Die Dämonen, er trifft sie jetzt, in dem kalten Land mit der harten Sprache, immer öfter. Frau und Kind hat er daheim gelassen, der Ein­sam­keit begegnet er mit neuen Exzessen. Natür­lich ver­kehrt er auch hier in den besten Kreisen. Selbst Evita Peron, die schöne First Lady, soll ihm ver­fallen sein, ihm und seinen wun­derbar trau­rigen Augen.

Er schießt sich selbst in den Fuß

Bei der Heim­kehr ein Jahr später hat ihn seine Frau ver­lassen, für einen Team­kol­legen, seinen besten Freund. Helenos Reak­tion, mitten im Prunk seines Apart­ments: Dann ver­kaufe ich diese Bruch­bude und ziehe ins Copa­ca­bana Palace, wo ich hin­ge­höre.“ Statt­dessen schießt er sich im nächsten Rausch erst einmal selbst in den Fuß, er will wie John Wayne ein Streich­holz zwi­schen seinen Zehen treffen.

Wohin nun? Vasco da Gama erbarmt sich seiner, Heleno ist hier nur noch ein Spieler wie jeder andere. Die Meis­ter­schaft, ein schwa­cher Trost. Die Familie kaputt, Kon­takt zu seinem Sohn ist ihm ver­boten, und auch die Copa­ca­bana ist eine andere geworden. Der Hotel­pa­last wird jetzt von drei Seiten über­ragt von immer neuen Hoch­häu­sern, acht, zehn, zwölf Stock­werke hoch. Die Stadt am Strand wächst immer schneller, will immer höher hinaus, sie strebt dem stei­nernen Jesus ent­gegen. Das Mara­canã ist fast fertig, bald beginnt die WM, doch Natio­nal­trainer Flavio Costa denkt nicht daran, sich ein Pro­blem namens Heleno in den Kader zu holen.

Ich kann Wunder tun“

Es folgt eine wei­tere Flucht. Nach Kolum­bien, ein Land am Rande des Bür­ger­kriegs, in dem unver­hofft die lukra­tivste Liga Latein­ame­rikas ent­standen ist. Die Rebel­len­liga. El Dorado, so nennt sie sich. Wie pas­send. Eine glit­zernde Schein­welt inmitten des Chaos. Eine Welt, wie gemacht für unseren Heleno.

Ich kann Wunder tun“, ver­kündet er gleich bei seiner Ankunft. Und der 22 Jahre alte Lokal­jour­na­list García Már­quez schreibt fleißig mit. An guten Tagen stellt Heleno die anderen Stars in den Schatten, dar­unter einen gewissen Alfredo di Sté­fano. An schlechten …

Die große WM findet ohne ihn statt. Und Bra­si­lien ver­liert das ent­schei­dende Spiel gegen Uru­guay 1:2 – ein 1:1 hätte zum Titel gereicht. Vom Sieg­treffer des Alcides Edgardo Ghiggia, der an diesem 16. Juli 1950 das rie­sige Sta­dion zum Schweigen bringt und eine Nation in den Schock­zu­stand ver­setzt, erfährt Heleno de Freitas, Ex-Held im Exil, erst am fol­genden Tag aus der Zei­tung. Noch einmal bricht sich der bit­tere Zorn Bahn. Mit ihm wäre das nicht pas­siert, unmög­lich, aus­ge­schlossen.

Er ist ja keiner, der auf Unent­schieden spielt! Der wütende Prinz zieht in die süße Nacht, trinkt, raucht, vögelt, und fasst dann, die Sinne noch halb betäubt, neue, noch einmal die ganz großen Pläne. Er wird zurück­kommen und es allen noch mal zeigen. Doch was sich der­einst der kranke Ali gegen Larry Holmes vor­nehmen wird, kann auch 30 Jahre früher nicht klappen.

Sein Arzt schüt­telt nur den Kopf. Heleno“, sagt er, du musst auf dich achten. Auf deine Gesund­heit. Du bist krank. Du musst auf­hören zu trinken und zu rau­chen. Und, wenn mög­lich, auch mit dem Fuß­ball. Am besten jetzt gleich.“ Da wütet Heleno mehr als je zuvor. Der Syphilis soll er sich beugen? Heleno de Freitas spielt nicht im Mara­canã? Undenkbar. Er wird, ein letztes Mal noch, seinen Willen bekommen. Am 4. November 1951, andert­halb Jahre nach Ghig­gias Tor, läuft end­lich auch Heleno de Freitas in das rie­sige Oval ein, als Spieler des Amé­rica FC. Kein WM-Finale, ein kleines Zweit­run­den­spiel der regio­nalen Meis­ter­schaft. Es gibt ein Foto von diesem Tag, es zeigt einen Mann mit auf­ge­dun­senem Gesicht und Dop­pel­kinn. Das einst hoch­mü­tige Lächeln gro­tesk ver­zerrt. Schlimmer noch: Die Augen sind stumpf. Sie schauen ins Nichts.

Nach 25 Minuten ist alles vorbei. Heleno de Freitas fliegt wegen Belei­di­gung vom Platz. Nur noch ein Fall fürs Hospiz“, schreibt das Jornal dos Sports“ tags darauf, mit dunkel grau­samer Vor­ah­nung. Kein 31-Jäh­riger hat sich da über den Rasen geschleppt, son­dern ein alter, zer­störter Mann. Die Anti­klimax einer Kar­riere.

Nach dem Desaster von Mara­canã fällt alles zusammen. Mit dem Fuß­ball ist es vorbei. Zwei Jahre lang kommt Heleno, schon schwer­krank und immer wirrer, bei seinem Bruder Heraldo unter, spielt manisch Back­gammon gegen dessen Kinder. Gewinnen lässt er sie nicht, kein ein­ziges Mal. Spät in den schlaf­losen Nächten schleicht er dann in ihre Zimmer und zieht ihnen die Decken zurecht. Dass ihnen kalt wird, ist seine größte Sorge. Tags­über erzählt er stun­den­lang von dem glei­chen Riesen, der Bäume mit bloßen Händen aus­reißen kann.

Ganz am Ende, in seinem kargen Zimmer in dem gekalkten Bau an der Ave­nida São Sebas­tião, ist Heleno de Freitas, der eins­tige Super­star, nur noch ein hagerer Mann mit sträh­nigen Haaren und starrem Blick, ein Ske­lett von 30 Kilo, mit nur noch einem Zahn im Mund. Ein knapp 40-Jäh­riger im Körper eines 80-Jäh­rigen. Ein Stern, ver­glüht wie die aber­tau­senden Con­ti­nental, die er auf­ge­saugt hat wie das Leben.

Ein neuer Star taucht auf: Pelé

Oh, Heleno. Wäh­rend du in deinem weißen Zimmer mit letzter Kraft die Ver­gan­gen­heit hin­un­ter­würgst, ist draußen, am Strand, bereits ein neues Bra­si­lien ent­standen. Ein neuer Sound­track, ohne den Pomp der Vier­ziger. Nur noch eine Gitarre und ihre Stimme brau­chen sie nun, die Kinder der Rei­chen, für ihre neue Musik, die sie Bossa nova nennen. Sie haben etwas, das du, Heleno, so drin­gend gebraucht hät­test, schwer zu sagen, was genau, viel­leicht Selbst­ironie, viel­leicht Gelas­sen­heit. Viel­leicht ein­fach ein biss­chen Glück. Nie­mand zieht jetzt mehr die Augen­brauen so tief. Was meinst du damit, ich bin dir zu schräg?“, so singen sie sanft, ein biss­chen desa­fi­nado sein, das ist doch ganz normal.

Sie sind es nun, die die schönsten Girls ins Bett kriegen, hoch oben in den steilen Woh­nungs­türmen. Und nun wird auch die Seleção Welt­meister, die Bra­si­lianer lassen den Fuß­ball zum ersten Mal kin­der­leicht erscheinen, wie eine simple Fin­ger­übung auf der Gitarre, und ein 17-jäh­riger Bengel namens Pelé ist ihr neuer, ihr ganz großer Star.

Und nur ein Jahr darauf stirbt Heleno de Freitas, an einem klaren Novem­bertag, in einem sehr weißen, sehr ein­samen Haus an der Ave­nida São Sebas­tião.