Jahrelang gehörte Oliver Kahn zur Weltspitze. An seinem 50. Geburtstag erinnert sich Bayerns Nummer Zwei, Stefan Wessels, an den besten Torwart seiner Zeit.
Kurz vor meiner ersten Begegnung mit ihm war Oliver vom Platz gestellt worden. Es war der 1. Mai 1999 und ich, der Torwart der Amateure, saß als Zuschauer auf der Tribüne des Olympiastadions. Es war die 23. Minute, als Olli mit gestreckten Bein auf Gladbachs Jörgen Petterson zuflog. Gelbe Karte und Elfmeter. Im nächsten Moment traf Toni Polster und Olli reagierte auf seine Art. Für das Ballwegschlagen sah er die Gelb-Rote Karte.
Nur ein Wort? Wille.
Trotz der Unterzahl, trotz des frühen Gegentors gewannen wir mit 4:2. Doch während sich die Mannschaft am Dienstag auf den Weg nach Stuttgart machte, um dort gegen den VfB zu spielen, stand der gesperrte Oliver Kahn zum ersten Mal neben mir auf dem Trainingsplatz. Für mich war das ein Wow-Moment, für ihn eine ganz normale Trainingseinheit. Ich muss gestehen, ich stand mit meinem Idol auf dem Platz – allein, Olli war das nicht. Sondern unser Torwarttrainer Sepp Maier. Ihn hatte ich immer bewundert, seine Bücher zum richtigen Torwarttraining aufgesogen. Ein Probetraining mit „Seppl“ hatte mich endgültig von einem Wechsel zu den Bayern überzeugt. Und nun standen wir also zum ersten Mal zu dritt auf diesem Trainingsplatz an der Säbener Straße.
Die Bild-Zeitung hatte gerade vom „Kamikaze-Kahn“ geschrieben und zu seinem Platzverweis einen Psychologen befragt. Der hatte gesagt: „Kahn ist ein Mann mit sehr starken Ambitionen, einem ebenso starken Drang zur Perfektion.“ Und das kann ich bezeugen. Müsste ich Olli mit nur einem Wort beschreiben, würde ich „Willen“ wählen.
Ein ganz besonderes Ziel
Eine seltsame Situation war es ganz bestimmt, dass ich immer dann profitierte, wenn Olli ausfiel. An der Vorbereitung zur Saison 1999/2000 durfte ich teilnehmen, weil er sich im Sommerurlaub verletzt hatte. Als er später dazustieß, glaube ich, hat auch er mich zum ersten Mal wahrgenommen. Es war nicht irgendein Sommer, die Nacht von Barcelona, als Ole-Gunnar Solksjaer für Manchester United zum späten 1:2 getroffen hatte, war nur wenige Wochen her. Es heißt, Olli habe lange gebraucht, um sich davon zu erholen. Er selbst würde später sagen, dass er sich eineinhalb Jahre völlig leer gefüllt habe. Dass sein System aus Erfolg und Disziplin zusammengebrochen wäre. Für mich war er noch immer unschlagbar.
Neben seiner ungeheuren Sprungkraft erinnere ich mich daran, wie Olli in jedem Training jeden verdammten Ball festhalten wollte. Nicht ins Seitenaus klären, nicht nach vorne boxen. Nein! Gut möglich, dass er es heute schwerer hätte. Die Ansprüche an einen Torwart waren zu dieser Zeit perfekt für ihn. Die schnellen Reaktionen, die Sprungkraft, die Arbeit mit den Händen. Um jeden Preis wollte er sein Tor verteidigen, auch dann noch, wenn eine Situation schon abgepfiffen war. Das habe ich mir versucht, von ihm abzuschauen.
Olli konnte sich auf den Punkt konzentrieren, alle Nebensächlichkeiten ausblenden und auf sich konzentrieren. Das führte dazu, dass sich zwischen uns nicht unbedingt eine Meister-Lehrling-Beziehung einstellte. Aber von jeder Trainingseinheit mit ihm konnte ich lernen. Alles unterzuordnen, immer professionell zu sein, von Jetzt auf Gleich Leistung zu bringen. Was ich gelernt hatte, sollte ich kurze Zeit später bei meinem ersten Spiel gegen die Glasgow Rangers unter Beweis stellen. Olli und Bernd Dreher hatten sich am Wochenende gegen Frankfurt nacheinander verletzt. Nun war ich also in der Champions League gefordert – wir spielten 1:1.
Die Niederlage in Barcelona wird Olli verändert haben. Danach hat sich sein Wille unermesslich gesteigert. Er wollte diesen Champions-League-Pokal um jeden Preis. Vor unserem nächsten großen Finale 2001 hatte ich mich an der Fingersehne verletzt, gehörte im Anzug gekleidet zwar zum Tross, aber verfolgte das Spiel gegen Valencia von einem Platz nahe der Auswechselbank. Normalerweise achtete ich als Auswechselspieler immer darauf, was Olli tat. In diesem Spiel, bei diesen Emotionen, war das kaum möglich. Und doch: Olli holte den Titel. Drei Elfmeter wehrte er ab, auch wenn er sonst nicht als Elfmeterkiller galt. Aber diesen Pokal, den wollte er nach 1999 unbedingt.
Die letzten Sekunden in Hamburg
Aber eine andere Szene aus dieser Saison ist mir in Erinnerung, die seine Unbändigkeit am besten beschreibt. Es waren die Schlussminuten in Hamburg, 34. Spieltag. Gerade hatten wir das 0:1 kassiert, das uns eigentlich die Meisterschaft kosten sollte, während die Menschen in Gelsenkirchen schon zu Feiern begannen. In diesem Moment riss Olli die Emotionen an sich. Er rastete aus – im positiven Sinne. Jeden einzelnen Vordermann trieb er nach vorne. Weiter, weiter. Und als wir den indirekten Freistoß in Hamburgs Sechzehner bekamen, lief auch Olli nach vorne, wirbelte alles durcheinander. Er provozierte das Irgendwie. Stefan Effenberg musste ihn regelrecht beruhigen. Aber Olli wollte alles tun, damit dieser Ball sein Ziel finden würde. Wenige Sekunden später waren wir Meister.
Dabei war Olli nie ein Lautsprecher. In der Kabine konzentrierte er sich oft auf sich selbst. Natürlich, er konnte eine Mannschaft notfalls wachrütteln. Doch seinen Führungsanspruch hatte er sich auf dem Platz erarbeitet. Dazu nutzte unser Trainer Ottmar Hitzfeld einen kleinen Kniff. Ich habe es nie erlebt, dass Olli – völlig gleich, wie schwer sein Patzer war – vor der Mannschaft explizit kritisiert wurde. Im Einzelgespräch, vielleicht mit Sepp Maier, da wurde es ihm bestimmt gesagt. Aber nicht vor den anderen. Das sorgte dafür, dass Olli immer sicher war. Er wurde nie angegangen, nie in Frage gestellt. Für die Entwicklung eines Torwarts ist das ideal.
Extraschichten am Morgen
Denn dass Olli sich zurückgelehnt hätte, kam sowieso nicht vor. Er wusste schon, wenn ihm ein Fehler unterlaufen war. Und die Folgen bekam ich nicht selten zu spüren. Nach einem schlechten Spiel erhielt ich oft Abends noch eine Nachricht, am nächsten Morgen etwas früher an der Säbener zu sein. Dann legte Olli mit uns Extraschichten ein. Bis er die Sicherheit zurückerlangte hatte. Sein altes Credo: Auf Disziplin folgt Erfolg.
Und was für Erfolge: Achtfacher Deutscher Meister, Champions-League-Sieger, Europameister, Vize-Weltmeister, sechsfacher DFB-Pokal-Sieger, Weltpokalsieger, dreifacher Welttorhüter, bester Spieler einer Weltmeisterschaft. Sein ganzes Leben Weltklasse. Seit 50 Jahren – herzlichen Glückwunsch, lieber Olli.