Sind Geisterspiele in Zeiten von Corona die Lösung? Müssen Fans verantwortungsvoller handeln? Wird die EM stattfinden? Antworten von der größten europäischen Fanorganisation.
Ronan Evain, trotz Corona wird in einigen Ländern immer noch Fußball gespielt. Sind Geisterspiele die Lösung?
Ganz sicher nicht. Ich habe Liverpool gegen Atletico und PSG gegen Dortmund in der Konferenz gesehen. Der Unterschied zwischen dem stimmungsvollen Anfield und dem leeren Prinzenpark war unglaublich deprimierend.
In den Achtzigerjahren wurden bei Geisterspielen manchmal Fangesänge über Stadionlautsprecher eingespielt.
Es klingt wie eine Dystopie, in der du eine alternative Realität erzeugen willst. Und es erinnert mich an die Zeit, als die Vereine anfingen, moderne Arenen zu bauen. Einige zogen Transparente mit Fake-Fans über die Baustellen und halbfertigen Tribünen, um Zuschauer zu imaginieren.
Football Supporters Europe ist ein 2008 gegründetes Netzwerk von Fußballfans in Europa, mit Mitgliedern in 48 UEFA-Mitgliedsländern. Es wird von der UEFA oder der EPFL als Ansprechpartner für Fanfragen konsultiert. Ronan Evain ist seit 2016 Geschäftsführer.
Wenn es in dieser Zeit etwas Gutes gibt, ist es also die Erkenntnis: Fußball ohne Fans ist nichts.
Absolut. Denn es fehlt so vieles: der Lärm, die Leidenschaft, die Liebe. Und natürlich dieses besondere Gefühl, wenn du ein ausverkauftes Spiel vor 50.000 Zuschauern anguckst. Selbst im Fernsehen bekommt es eine spezielle Größe. Es wirkt, als sei die ganze Stadt vor Ort. Bei einem Geisterspiel ist es, als würdest du die Aufzeichnung einer TV-Show gucken.
Unter der Woche feierten viele Fans vor den Stadien, in denen Geisterspiele stattfanden. Ist das nicht verantwortungslos?
Vielleicht. Aber es ist die Sache der Autoritäten, diese Versammlungen zu untersagen. In Paris haben Fans zum Beispiel eine Demonstration angemeldet – auf der Basis, wie die Situation zu diesem Zeitpunkt in Frankreich empfunden wurde. Eventuell würde eine solche Aktion heute nicht mehr stattfinden. In Deutschland sieht die ganze Sache anders aus. Dort hat sich in den vergangenen Tagen die Einsicht durchgesetzt, nicht mehr kollektiv zu den Stadien zu pilgern, um die Mannschaft von draußen zu unterstützen. Dabei hatten die Fans selbst enormen Einfluss, weil sie das in ihren Szenen gut moderiert haben.
Trotzdem: Die PSG-Spieler haben die anwesenden Anhänger zum Feiern animiert. Sie tanzten und jubelten vor tausenden Anhängern. Atletico-Stürmer Diego Costa hustete in die Richtung von Journalisten. Nimmt der Fußball die Krise nicht ernst?
Er nimmt sie nicht mehr und nicht weniger ernst als andere. Ich finde auch nicht, dass die PSG-Spieler die Fans ermutigt haben. Die gemeinsame Feier war keine bewusste Entscheidung, eher ein spontaner Ausbruch. Und Sie wissen ja: Emotionen gehören zum Fußball. Deswegen ist er so attraktiv. Ich tue mich als Fan daher schwer, das moralisch zu verurteilen. Im Hinblick auf die Krise sollten wir aber natürlich das Wohl aller im Blick haben.
Am Samstag spielt Schalke gegen Dortmund. Ein S04-Fanklub verkauft 999 Tickets für seine Derbyparty. Auch nicht gerade ein sensibler Blick auf die Krise, oder?
Auch das ist, Stand jetzt, noch legal. Aber ja: es ist natürlich schwierig zu vermitteln, was aber auch daran liegt, dass die Regelungen für öffentliche Veranstaltungen von Land zu Land völlig verschieden sind. Schauen Sie sich Musiker und Bands an, die gerade auf Tour durch Europa sind. Nada Surf haben am Mittwoch in Paris an einem Abend zwei Konzerte hintereinander gespielt, weil maximal nur 1000 Zuschauer erlaubt sind. So aber konnten sie die Leute aufteilen.
Was sind die möglichen Folgen der Corona-Pandemie?
Viele kleinere Unternehmen – ob Künstler, Veranstalter oder Fußballvereine – trifft diese Krise sehr hart. Viel stärker als die großen Klubs sind sie auf Eintrittsgelder angewiesen. Zweitligisten in Belgien. Oder Drittligavereine in Osteuropa. Die wird es hart treffen. Einige werden Pleite gehen, andere können ihre Spieler nicht mehr bezahlen. Wie in jedem anderen Wirtschaftszweig können wir nur hoffen, dass es eine breite Solidarität geben wird. Die Spielergewerkschaft FIFPRO hat bereits ihre Sorgen und Ängste geäußert.
In der Bundesliga soll am Wochenende weitergespielt werden. Die meisten Fans halten das für die falsche Entscheidung.
Das Lavieren der Verbände macht die Situation extrem schwierig. Ich bin gerade in Hamburg, und hier weiß man jetzt – Freitag, 10.30 Uhr – immer noch nicht, ob am Wochenende das Heimspiel von St. Pauli stattfindet. Auch die Premier League kann sich schwerlich zu einer klaren Entscheidung durchringen. Dabei haben sich Profis infiziert (bislang Arsenal-Trainer Mikel Arteta und Chelseas Callum Hudson-Odoi, d. Red.). Wir brauchen einfach eine klare Ansage, dass der Fußball jetzt pausiert. Zwei Wochen, drei, vier oder länger. So aber fliegen Fans, die vor langem schon Tickets gekauft haben, weiterhin durch Europa, um die Spiele zu sehen.
(Während das Interview geführt wurde, beschloss die FA eine Aussetzung der Premier League bis zum 3. April, d. Red).
Wie bewerten Sie die Krisenkommunikation der UEFA?
Anfangs agierte sie sehr zaghaft und langsam. Wobei es richtig war, erst mal abzuwarten, was die staatlichen Behörden vermelden und vorgeben. Mittlerweile nimmt die UEFA die Sache ernst. Wir sind nun an einem Punkt, an dem die Verantwortlichen nicht mehr so sehr die finanziellen Einbußen, sondern eher die gesundheitlichen Folgen im Blick haben.