Hunderte Fortuna-Fans fluteten auf den Platz, um den Aufstieg ihres Klubs zu feiern. Bloß war das Spiel gegen Hertha BSC da noch gar nicht vorbei. Ein Abbruch drohte – und die Frage: Sind die Düsseldorfer nicht erstligareif?
Der Modebegriff „Schwarmintelligenz“ war mal eine Verheißung: Tausend Gehirne wissen mehr als eins, und wenn sie gemeinsam über eine Sache nachdenken, kann es tatsächlich so etwas geben wie eine überindividuelle Weisheit, die Vernunft der Masse.
Dass das Quatsch ist, kann nur jeder Einzelne für sich erkennen, ganz allein. Zum Beispiel gestern Abend vor dem Fernseher, beim Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC.
Dummheit – live!
Die Masse bleibt wegen ihrer schieren Größe meistens ein amorphes Gebilde. Man nennt sie dann behelfsmäßig „Gesellschaft“. Die tatsächliche Masse dahinter bleibt jedoch unbegreiflich, und ihre Dummheit ist ätherisch. In einem Fußballstadion aber wird diese Masse plötzlich so schön übersichtlich, erfasst von Dutzenden Kamera, super ausgeleuchtet und per Großaufnahme jederzeit in ihre Bestandteile zerlegbar. Und man sieht, hört, spürt ihre Dummheit regelrecht. Live! Vor allem gestern, in der Esprit-Arena zu Düsseldorf.
Es war noch eine Minute zu spielen, schon standen Hunderte Fortuna-Fans am Spielfeldrand, weil sie 15 Jahre auf den Aufstieg gewartet hatten und jetzt nicht mehr warten wollten, besoffen vor Vorfreude. Ranisav Jovanovic vergab die vermeintlich letzte Chance, es blieb beim 2:2, das reichte für Düsseldorf – aber es war eben noch nicht vorbei. Doch irgendwer hörte trotzdem einen Schlusspfiff, rannte los, die anderen hinterher, Männer, Frauen, Hunderte – ein Mob entlud sich und flutete das Spielfeld.
Was sich ein Einzelner niemals getraut hätte, wurde möglich, weil er sich der Masse hingab: dort zu sein, wo er nicht sein durfte. Der Fan, der den Elfmeterpunkt ausgrub und ihn mitnahm wie eine Trophäe, hielt sich ganz offenbar für den Größten. Am Morgen danach, wenn er als Einzelner wieder erwacht ist, wird er sich mit einiger Wahrscheinlichkeit schämen.
Dass ein Spielabbruch unmittelbar bevorstand und damit der Aufstieg zu platzen drohte, den sie zu feiern den Platz gestürmt hatte, erkannte die Masse nicht – dazu bräuchte sie eine Vernunft, die sie nicht besitzt. Diese könnte nur vom Einzelnen ausgehen, doch der hat sich in der Masse aufgelöst und genießt es gerade, unvernünftig zu sein. Nennen wir es „Schwarmdummheit“.
„Unfassbar!“, sagte Bartels. „Unfassbar!“
Die Vernunft war in der TV-Übertragung nur noch in ihrem geschlagensten Zustand anwesend: in der Stimme des immer mehr vereinzelnden Kommentators Tom Bartels. „Unfassbar!“, sagte er, als berichtete er von einer Naturkatastrophe. „Unfassbar!“
Selbst als die Ordner, der Stadionsprecher und Fortuna-Profi Sascha Rösler die Masse mit Nachdruck zum Verlassen des Platzes aufriefen, verhielt sie sich kaum anders als eine störrische Rinderherde. Es dauerte seltsam langweilige 25 Minuten, bis das Spiel endlich weitergehen konnte. Es blieb beim 2:2.
Doch das Ergebnis war zweitrangig geworden. Schon wollte Hellmut Krug, der die DFL in Schiedsrichterfragen berät, angesichts der Geschehnisse „politische Gremien“ einberufen, machten Fieldreporter Krisengebietsgesichter, hielten Beckmann und Scholl ein Scherbengericht.
Sicher, der Platzsturm von Düsseldorf war eine Zumutung für alle, die nicht daran teilnahmen. Aber er war nichts, wozu ausschließlich Düsseldorfer Fans in der Lage sind. Bevor wir ihnen als neutrale Beobachter aus dem Fernsehsessel heraus nun also die Erstligatauglichkeit absprechen, sollten wir uns die Frage stellen: Wie vernünftig sind wir selbst als Teil einer Masse?