Vor 50 Jahren eskalierte nach einem WM-Qualifikationsspiel der schwelende Konflikt zwischen El Salvador und Honduras. Der sogenannte Fußballkrieg kostete Tausende das Leben, der Fußball wurde schamlos für politische Zwecke missbraucht.
Und dann erlaubt sich Mauricio Rodríguez zum ersten Mal einen Anflug von Stolz. Nach rund einer Stunde Gespräch erhebt er sich, den alle seit seiner Kindheit nur „Pipo“ nennen, von der schwarzen Ledercouch im Wohnzimmer seines Hauses in San Salvador und geht die wenigen Schritte in sein Arbeitszimmer. Zwischen Dutzenden von Pokalen, Zeitungsausschnitten und Urkunden kramt Rodríguez eine kleine silberfarbene Schachtel hervor.
Vorsichtig öffnet er sie und nimmt eine auf Watte gebettete vergoldete Medaille heraus.
Mit dem Daumen fährt er darüber, gerade so, als wolle er Staub abwischen. „Heroe Nacional Pipo Rodríguez“ – Nationalheld Pipo Rodríguez – steht auf der Gedenkmünze, die an einem blau-weißen Band in El Salvadors Nationalfarben befestigt ist. „Die habe ich nach dem Spiel in Mexiko-Stadt bekommen“, sagt er. Dabei legt sich erstmals an diesem Vormittag ein Lächeln auf das Gesicht von Pipo Rodríguez, und man ahnt, wie seine Gedanken zum 27. Juni 1969 reisen.
An diesem regnerischen Abend vor 50 Jahren schoss er als Stürmer der Nationalmannschaft von El Salvador im Aztekenstadion ein Tor gegen Honduras, mit dem er sein Land der Teilnahme an der WM 1970 ganz nahe brachte. Ein Tor, von dem man später behaupten sollte, es habe einen Krieg ausgelöst. Vermutlich spricht der drahtige, freundliche Mann mit der Vorliebe für Polohemden an diesem Vormittag deshalb lange so distanziert und emotionslos – fast spröde wie ein Historiker – über sein Tor zum 3:2‑Sieg El Salvadors, weil er um die geschichtliche Klemme weiß, in der er und seine Mitspieler damals steckten und aus der sie sich nicht befreien konnten. „Wir wurden für politische Zwecke benutzt“, weiß Rodríguez.
Von den Medien geschürter Druck
Denn während die Spieler von El Salvador und Honduras darum kämpften, mit ihren Teams als erstes zentralamerikanisches Land zu einer WM zu reisen, nutzten die Militärmachthaber in den benachbarten Staaten das sportliche Aufeinandertreffen, um die Bevölkerung auf einen Krieg um Territorialfragen und salvadorianische Einwanderer in Honduras einzuschwören, der längst beschlossene Sache war.
Das Entscheidungsspiel in Mexiko und die beiden vorangegangenen Partien in Honduras am 8. Juni und in El Salvador am 15. Juni kamen wie gerufen, um auch in der Bevölkerung den Hass zu schüren.
An den Spielern ging das nicht spurlos vorüber: „Wir spürten spätestens beim zweiten Spiel, dass wir auch eine moralische Verpflichtung hatten, für unser Land zu siegen“, erinnert sich Rodríguez an den Druck, der in diesen drei Wochen im Juni 1969 stetig größer wurde, vor allem geschürt durch nationalistische Medien: „Wir hatten das Gefühl, dass der Stolz und die Ehre El Salvadors an unseren Fußballstiefeln klebten.“
Als sei er bereit, ein Gewehr in die Hand zu nehmen
Rodríguez dreht die Ehrenmedaille zwischen den Fingern und sagt: „Nach unserer Rückkehr aus Mexiko wurden wir wie Helden empfangen.“ Die Bevölkerung von El Salvador feierte ihre Spieler einen Tag nach dem 3:2‑Sieg mit Blumen, Fahnen – und mit Tränen in den Augen. „Der Bus mit unserer Mannschaft brauchte fünf Stunden für die 15 Kilometer vom Flughafen bis ins Stadion Flor Blanca“, erzählt Pipo Rodríguez. „Und mir war durchaus bewusst, dass ich diesen Moment genießen muss. Denn es war klar, so etwas kommt nicht wieder.“ Eine halbe Flugstunde von San Salvador entfernt, in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa, sitzt Francisco Bulnes an einem klaren heißen Morgen in den Räumen des honduranischen Fußballverbandes Fenafuth und erzählt von einer völlig anderen Rückkehr.
Keine Medaillen, keine Blumen, keine Freudentränen. „Als wir aus Mexiko nach Tegucigalpa zurückkamen, war der Fußball längst Nebensache “, erinnert er sich, der in den drei Spielen Pipo Rodríguez‘ Gegenspieler war. Ganz Honduras war in Aufruhr, aber nicht wegen der Niederlage gegen den Nachbarn, sondern aus Angst vor einem Krieg gegen ihn. Am Morgen vor dem Spiel hatte Honduras Präsident Oswaldo López Arellano die diplomatischen Beziehungen zu El Salvador abgebrochen und damit die Entscheidung der Salvadorianer einen Tag zuvor erwidert.
„Wir fürchteten, dass es Krieg geben würde, auch wenn wir uns nicht vorstellen konnten, dass Salvador uns wirklich angreift“, sagt Bulnes verständnislos. Kaum aus Mexiko zurück, schrieb Bulnes, Spitzname „Azulejo“, sich wie zehntausende andere Honduraner als Freiwilliger ein: „Ich wollte nur noch eine Waffe haben und an der Grenze mein Land verteidigen“, sagt er und rudert dabei so heftig mit den Armen, als sei er noch immer bereit, ein Gewehr in die Hand zu nehmen.
Bulnes – der Landesverteidiger. Rodríguez – der Nationalheld. Zwei Spieler, für die das Ergebnis des Spiels nicht unterschiedlicher hätte sein können, die aber letztlich beide mit ihren Mannschaften Opfer der Politik wurden. Rivalen auf dem Platz, die nun drohten, auch außerhalb zu Feinden zu werden. Beide waren im Sommer 1969 junge Spieler, die nur Fussball im Kopf hatten und von Politik nichts wissen wollten. Rodríguez, 23 Jahre, Rückennummer 7, Rechtsaußen bei seinem Verein Club Deportivo Universidad aus San Salvador und auch Rechtsaußen in der Nationalelf. Zum Zeitpunkt der Ausscheidungsspiele gegen Honduras hatte er schon alle Jugendnationalteams des Landes durchlaufen. Der Kern der Nationalmannschaft spielte seit vielen Jahren zusammen und hatte ein Jahr zuvor an den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko teilgenommen.
Azulejo Bulnes, Rückennummer 4, genau ein Jahr jünger als Pipo Rodríguez, ebenso klein und wendig, beidfüßig, ein verbissener Verteidiger bei Olimpia de Tegucigalpa, sowas wie dem FC Bayern München von Honduras. Ein vorbildlicher Sportler, der, damals wie heute, ohne Alkohol und Nikotin auskommt. „Ich war schon Profi, als wir noch gar nicht wussten, was das ist“, sagt er und man merkt ihm den Frust an, dass er nicht 20 Jahre später geboren wurde. Mit 35 Jahren schnürte er bei der WM 1982 in Spanien noch mal die Stiefel für Honduras.
Dort kreuzten sich zum letzten Mal die Wege mit Rodríguez, der bei dem Turnier die Nationalelf von El Salvador trainierte. In Spanien war das Glück anders verteilt. Während Rodríguez mit seinen Schützlingen gegen Ungarn mit 1:10 die höchste Niederlage der WM-Geschichte kassierte und El Salvador nur dieses eine Tor im gesamten Turnier erzielte, wäre Bulnes mit seiner Mannschaft nach zwei Unentschieden gegen Gastgeber Spanien und Nordirland fast in die Zwischenrunde eingezogen. Doch im entscheidenden Spiel gegen Jugoslawien unterlief ausgerechnet ihm das Foul, das zum Elfmeter und zur 0:1‑Pleite führte.
Bis zu 6000 Menschen verloren ihr Leben
Rodríguez hat sich heute vom Fußball weitgehend losgesagt. Er hat eine kleine Baufirma in San Salvador und in der Garage drei deutsche Autos stehen. Bulnes arbeitet für den Staat und ist Co-Moderator einer sonntäglichen Fußball-Talkshow.
Sportler sind beide geblieben. Bulnes läuft jeden Morgen zehn Kilometer und kickt in einer Altherrenmannschaft. Rodríguez spielt noch täglich Tennis. „Ich habe seither nur vier Kilo zugenommen“, sagt er und lacht. Bulnes, der auch im Alter noch immer eine üppige Lockenpracht auf dem Kopf trägt, ähnelt seinem Gegenspieler nicht nur körperlich. Auch die Einschätzungen der Gegenspieler zur Situation damals decken sich: „Wir wollten eigentlich nur Fußball spielen“, sagt der Honduraner. „Wir haben gar nicht richtig kapiert, um was es da außerhalb des Spielfelds eigentlich ging“, sagt der Salvadorianer.
Und zum Beweis zitiert Rodríguez die Worte des damaligen Trainers von El Salvador, Gregorio Bundio Nuñez. Er hatte seinen Kickern eingeschärft, nicht zur Eskalation der politischen Lage beizutragen: „Spielt fair und foult nur im Rahmen des sportlich Notwendigen.“ Beide Seiten hielten sich an diese Vorgabe, erinnert sich Rodríguez: „Die Spiele waren hart, aber sauber.“ Anders als außerhalb des Rasens: Da war es den Politikern in beiden Ländern gelungen, den Fußball für ihre Zwecke zu missbrauchen und die Bevölkerung von der angeblichen Notwendigkeit eines Waffengangs zu überzeugen. Am 14. Juli 1969, drei Wochen nach dem Entscheidungsspiel in Mexiko, folgte ein kurzer, äußerst blutiger Konflikt. In den nur einhundert Stunden, die der Krieg dauerte, verloren bis zu 6000 Menschen ihr Leben.
Große soziale Einschnitte und eine ernste Bedrohung
Es war einer der absurdesten Kriege der Geschichte: Honduras und El Salvador waren so etwas wie Bruderstaaten. Sie haben gemeinsame Wurzeln, die Menschen sprechen dieselbe Sprache, die Landesflaggen ähneln sich, nicht mal eine richtige Grenze gab es. Doch das war Teil des Problems: Honduras ist knapp sechsmal so groß wie El Salvador, hatte Ende der sechziger Jahre aber nur die Hälfte der Einwohner. Über die Jahrzehnte waren daher rund 300 000 Salvadorianer einfach über die Grenze emigriert, hatten sich freies Land genommen, dieses fruchtbar gemacht und so ein Auskommen gefunden, das es für sie in der Heimat nicht mehr gab.
Die Regierung in Honduras, die diese stille Einwanderung immer toleriert hatte, beschloss aufgrund sozialer Probleme im April 1969 aber, die Salvadorianer zu enteignen und nach Hause zu schicken. Das Land, das die Bauern aus Salvador beackert hatten, sollten nun honduranische Campesinos erhalten. Für Salvador war dies schlicht eine Horrorvorstellung, da der Staat von der Größe Hessens ohnehin schon aus allen Nähten platzte. Eine Rückkehr der Migranten bedeutete große soziale Einschnitte und damit eine ernste Bedrohung für die Stabilität der Regierung von Präsident Fidel Sánchez Hernández.
In diesem Klima kam es wenige Wochen später zum ersten Spiel zwischen den beiden Ländern.
Honduras – El Salvador | 8. Juni 1969 Tegucigalpa | Nationalstadion | 1 : 0
Vor Beginn der drei Spiele gilt Honduras als Favorit: „Sie hatten sich zwei Jahre lang auf die Qualifikationsrunde vorbereitet, wir nur anderthalb Monate“, erinnert sich Pipo Rodríguez. Außerdem haben sie zuvor Costa Rica ausgeschaltet, das damals so etwas wie das Brasilien Zentralamerikas ist. Und sie verfügen über die besseren Einzelspieler. Herausragend ist vor allem Mittelstürmer José Enrique Cardona, der bei Atlético Madrid sein Geld verdient, damals einer der besten Klubs Europas.
Schon beim ersten Spiel vermischen sich die Dinge, die in Lateinamerika zum Fußball dazugehören und solche, die der besonderen Situation geschuldet sind: „Wir kamen am Samstagabend in Honduras an und spürten schon im Hotel eine Stimmung gegen uns“, erinnert sich Rodríguez. Vor dem Hotel Prado in der Innenstadt von Tegucigalpa versammeln sich hunderte Fans mit Trillerpfeifen, leeren Fässern und Feuerwerkskörpern. Sie beschallen die Herberge die ganze Nacht, pfeifen, trommeln und feuern Raketen ab. Dazu hupen die Autos, was die Batterien hergeben. Die Mannschaft von El Salvador soll keine ruhige Minute finden, damit sie unausgeschlafen ins Spiel geht. In Lateinamerika gehört diese psychologische Kriegsführung noch heute zum guten Ton.
Auf dem Spielfeld geht es sportlich zu
Auch Beleidigungen wie Hijos de puta (dt. Hurensöhne) gehören zur Ermüdungsstrategie. Aber in dieser Nacht auf den 8. Juni sehen sich die Spieler El Salvadors mit bis dahin unbekannten Beschimpfungen konfrontiert: „Sie nannten uns Diebe“, erklärt Rodríguez. „Da merkten wir, dass es um mehr ging. Es war Hass zu spüren, der über die sportliche Rivalität hinausreichte. Es ging gegen uns als Salvadorianer.“ Das Terrain dafür bestellen die Medien in Honduras. Sie schüren in den Wochen vor dem Spiel die Ressentiments gegen die Nachbarn und feiern unverhohlen die Enteignungen.
Zum Zeitpunkt des Spiels tauchen in ganz Honduras zudem Flugblätter auf, die Salvadorianer als „Diebe, Trunkenbolde und Betrüger“ verunglimpfen. Darunter steht meistens die eindeutige Warnung: „Haut ab aus Honduras oder ihr werdet es bereuen!“ Schon um vier Uhr morgens stehen lange Schlangen vor den Toren des Nationalstadions. Zwei Stunden später werden die Tore geöffnet. Um sieben Uhr passt kein Blatt mehr zwischen die 18 000 Zuschauer.
Trotz der kurzen Nacht gestaltet El Salvador das Spiel lange ausgeglichen. Das Siegtor gelingt Verteidiger Leonard Welch erst in der 89. Minute. Auf dem Spielfeld geht es sportlich zu. Pipo Rodríguez: „Es gab weder von uns noch von Honduranern Beleidigungen oder Extra-Tritte.“
El Salvador – Honduras | 15. Juni 1969 San Salvador | Stadion Flor Blanca | 3 : 0
In der Woche bis zum Rückspiel in San Salvador erhöht sich die politische Spannung deutlich. Die Ausweisungen von Salvadorianern aus Honduras nehmen zu, forciert durch die paramilitärischen Schlägertrupps der „Mancha brava“ (frei übersetzt „Blutfleck“), Totschläger der Regierung, die immer dann eingesetzt werden, wenn es nötig ist: gegen streikende Lehrer und Studenten, Kommunisten oder in diesem Fall gegen Salvadorianer. So berichten die Zeitungen in El Salvador von vergewaltigten Frauen, von Familien, die aus ihren Häusern geprügelt und deportiert werden. „Das lasen wir natürlich“, sagt Pipo. „Dem konnten wir uns gar nicht entziehen.
Eine aufgebrachte Menge vor dem Hotel
Es gab in den Zeitungen kein anderes Thema.“ Zum Zeitpunkt des Rückspiels haben bereits mehr als tausend salvadorianische Familien Honduras verlassen – freiwillig oder unfreiwillig. Dementsprechend sieht der Empfang für die honduranische Mannschaft in San Salvador aus. Schon die Anreise am Freitag, zwei Tage vor dem Spiel, ist außergewöhnlich. In einer Demonstration der Macht begleiten Kampfjets das Flugzeug mit der Mannschaft bis zur salvadorianischen Grenze.
Was dann folgt, bezeichnet Marco Antonio Mendoza, damals Mittelfeldspieler bei Honduras und heute Generalsekretär des Fußballverbandes Fenafuth, als das „unangenehmste Erlebnis“ seiner Karriere. „Wir haben zwei Nächte kein Auge zugemacht und mitunter um unser Leben gefürchtet“, sagt er und erzählt dabei so detailgetreu, dass man den Eindruck gewinnt, es sei gerade ein paar Stunden her: Eine aufgebrachte Menge vor dem Hotel San Salvador – laut Zeitungsberichten mehrere tausend Menschen – wirft alle Scheiben und Türen des Gebäudes ein. Dann rauschen Raketen durch die zerborstenen Fenster auf die Zimmer der Spieler, faule Eier und tote Ratten werden hinterher geworfen.
Die Spieler flüchten um drei Uhr nachts auf das Dach des Hotels, stopfen sich Watte in die Ohren und versuchen, Karten zu spielen. „Die Polizei, die das alles sah, rief über Lautsprecher den Menschen zu: ›Macht was ihr wollt, aber zerstört nicht das Hotel‹ “, zürnt Mendoza noch heute. „Die hätten uns doch schützen müssen.“ Nicht viel besser ergeht es den rund 5000 mitgereisten honduranischen Fans. Die Fahrzeuge und Busse werden mit Steinen und kleinen Molotow-Cocktails beworfen. Zeitungen berichten von mehreren Verletzten.
Am nächsten Morgen eilen in Salvador lebende Honduraner zu Hilfe und evakuieren die Mannschaft aus dem Hotel. In Dreiergruppen aufgeteilt verbringen die Spieler die zweite Nacht in Häusern honduranischer Familien in San Salvador. „An Training und Vorbereitung auf das Spiel war überhaupt nicht zu denken“, sagt Mendoza.
Die Mannschaftsführung beantragt die Absage des Spiels bei der FIFA, unter Hinweis auf die irregulären Bedingungen. „Sie hätten es absagen müssen. Aber ich verstehe auf der anderen Seite auch, warum sie es nicht getan haben. Das Klima war so aufgeheizt, dass wir nicht lebend nach Honduras zurückgekommen wären.“ Geschützt von gepanzerten Fahrzeugen der salvadorianischen Armee fährt die honduranische Equipe also am Sonntag ins Stadion Flor Blanca.
Angriffe auf offener Straße
Die Eskorte soll sicherstellen, dass die Spieler das Stadion unversehrt erreichen. Dort setzen sich die Demütigungen fort: Mehr als 40 000 fanatische Salvadorianer machen den wenigen honduranischen Anhängern, die sich noch zum Spiel trauen, das Leben schwer. Sie werden mit Urin- und Exkrement-Beuteln beworfen. Honduranische Fahnen brennen, die Nationalhymne wird niedergepfiffen und Honduras‘ Stürmer Cardona, der auf den Spitznamen Coneja (dt. die Häsin) hört, wird mit Plakaten beleidigt, die zwei Hasen beim Sex zeigen. „Zu allem Überfluss musste unser anderer Stürmer Jorge Urquia nach 20 Minuten mit einer Knöchelverletzung vom Platz. Er fehlte uns auch in Mexiko“, erinnert sich Mendoza.
Das Spiel endet 3:0 für El Salvador. Die honduranische Mannschaft wird noch in verschwitzten Trikots und Fußballschuhen zum Flughafen eskortiert, glücklich, nur das Spiel verloren zu haben. Eine dritte Partie in Mexiko-Stadt zwölf Tage später muss nun die Entscheidung bringen. Spätestens nach dieser Begegnung tritt der Fußball völlig in den Hintergrund. In Honduras rächen sich die Einwohner für die Demütigungen mit Angriffen auf Salvadorianer auf offener Straße und Plünderungen ihrer Geschäfte. Derweil gehen die Ausweisungen der Bauern weiter. Zum Zeitpunkt des Entscheidungsspiels sind bereits 15 000 Salvadorianer geflohen.
El Salvador – Honduras | 27. Juni 1969 Mexiko-Stadt | Aztekenstadion | 3 : 2 n. V.
Zwei Tage vor der Partie beschuldigt El Salvador den Nachbarn vor der UN-Menschenrechtskommission des Völkermords und bricht 24 Stunden später die diplomatischen Beziehungen ab. Damit ist der Weg in eine kriegerische Auseinandersetzung frei, der erste Schuss nur eine Frage der Zeit. Honduras erwidert am Morgen vor dem Spiel den Schritt und bricht seinerseits die Beziehungen zum Nachbarn ab.
Bulnes bittet um Beistand. Vergeblich
Das Aztekenstadion, das rund 100 000 Zuschauer fasst, ist an diesem regnerischen Freitag nur zu gut einem Drittel gefüllt. 15 000 Zuschauer aus den jeweiligen Ländern werden von der Polizei durch verschiedene Eingänge in die riesige Betonschüssel eskortiert. Azulejo Bulnes, der Gegenspieler von Pipo Rodríguez, kniet wenige Minuten vor Anpfiff in den Katakomben des Stadions vor der Statue der Jungfrau von Guadeloupe, der mexikanischen Schutzheiligen, und betet um Beistand. Vergeblich, wie sich rund hundert Minuten später zeigen wird.
Das Spiel bleibt – wie die beiden Partien zuvor – eine rein sportliche Angelegenheit. „Die Spieler vergaßen politische Probleme und lieferten sich einen harten, aber ehrenhaften Kampf“, schreibt die mexikanische Tageszeitung „El Heraldo “ am nächsten Tag. El Salvador habe sich mit „überlegener Taktik und Technik gegen körperlich stärkere Honduraner“ durchgesetzt. Der Außenseiter geht bereits in der neunten Minute durch Mittelstürmer „Mon“ Martínez in Führung. Der Ausgleich folgt eine Viertelstunde später.
Kurz darauf erzielt Martínez, ein Spieler vom Typ Horst Hrubesch, mit einem satten Distanzschuss die erneute Führung für El Salvador. Honduras egalisiert erst in der 50. Minute ein weiteres Mal, als Torhüter Walberto Fernández durch den Strafraum stolpert und einen seiner Verteidiger so behindert, dass Honduras‘ Stürmer „Chula“ Gomez ins leere Tor trifft. Pipo Rodríguez muss noch heute lachen, wenn er an den Ausgleich denkt: „Unser Keeper war kurzsichtig. “ Trainer Bundio wechselt ihn nach dem Gegentor sofort aus.
Die reguläre Spielzeit endet unentschieden, vor allem El Salvadors Kicker sind platt: Die Höhe und der Dauerregen fordern ihren Tribut. Als alle mit einem Erfolg von Honduras rechnen, schlägt die große Stunde von Pipo Rodríguez: In der 101. Minute legt Linksaußen Elmer Acevedo ein hohes Zuspiel im Halbfeld mit dem Außenrist auf Mittelstürmer Martínez ab, der sofort mit rechts den Ball hoch Richtung Elfmeterpunkt schlägt. Azulejo Bulnes schläft für einen entscheidenden Wimpernschlag und lässt Pipo Rodríguez ziehen. Der gewinnt das Laufduell mit dem aus seinem Kasten stürmenden honduranischen Torhüter Jaime Varela und schiebt mit dem rechten Fuß den Ball ins Netz.
Während seine Mitspieler den Schützen unter sich begraben, stürmt ein halbes Dutzend Fotografen auf den Platz, um den Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Später schreiben die Zeitungen vom „Gol del Siglo“, dem Tor des Jahrhunderts. Beim Schlusspfiff brechen viele der honduranischen Spieler in Tränen aus. „Verständlich, denn auch sie wussten, dass es längst um mehr als Fußball ging. Wir spielten beide um die Ehre der Nation“, sagt der Torschütze. Doch die Elf von El Salvador, die Monate später in einem weiteren Entscheidungsspiel gegen Haiti endgültig das WM-Ticket löst, kann den Triumph kaum feiern. Für Rodríguez ist das 3:2 ein bittersüßer Triumph. Während er und sein Team bei der Rückkehr wie Nationalhelden gefeiert werden, laufen die Vorbereitungen auf den Krieg. Das salvadorianische Heer verlegt erste Truppen an die Grenze, und in Honduras bildet sich eine Art Bürgerwehr, zu der auch Francisco Bulnes und Marco Antonio Mendoza gehören. Rodríguez bekommt Tage später Post aus Europa.
El Salvador musste den Krieg führen
Sein Onkel, Botschafter in Spanien, sendet dem Neffen eine Handvoll mit Zeitungsausschnitten. „In allen stand, dass mein Tor die Ursache war, dass ein Krieg ausgelöst wurde“, sagt Rodríguez, „auch mein Onkel meinte, ich sei Schuld an all dem, was nach dem Spiel kam.“ Schuss. Tor. Krieg? „Nein, unser Sieg war nur ein Element mehr, der willkommene Anlass, wenn man so will. Aber der Krieg war nicht aufzuhalten, er wäre so oder so gekommen“, sagt der Torschütze und klingt so distanziert wie ein Historiker.
Diese These teilt auch César Elvir.Er muss es wissen. Der Oberst im Ruhestand war damals Mitglied des Generalstabs der honduranischen Streitkräfte. „Die Probleme zwischen El Salvador und Honduras dauerten damals schon rund zehn Jahre“, erläutert er. „Unserer Regierung war die ungezügelte Zuwanderung der Salvadorianer ein Dorn im Auge. Unseren Nachbarn wiederum passte sie sehr gut in den Kram.“ Nicht nur, weil es in Salvador wenig Land gab, sondern dieses oft auch noch ungerecht aufgeteilt und in Händen weniger Großgrundbesitzer war.
Die Migration nach Honduras war ein wichtiges Auslassventil, das sich mit der Entscheidung der Regierung, die Übersiedler zurückzuschicken, schloss. El Salvador wusste, dass es einen Krieg gegen den Nachbarn führen musste, wenn es einen Konflikt im eigenen Land vermeiden wollte. „Und in diesem Klima diente der Fußball als Lunte am Pulverfass“, betont der Ex-Oberst und lässt in seinem Haus in den sattgrünen Bergen nahe Tegucigalpa, inmitten von Akaziensträuchern, Bougainvilleen und gackernden Hühnern, den Krieg für einen Moment noch mal aufleben.
Verbotene Kriegsführung
Der schlanke, große Mann rollt Karten mit Frontverläufen, Kriegsstrategien und ‑zielen auf. „Die Spiele haben genau das feindliche Klima in der Bevölkerung geschaffen, das die Regierungen brauchten, um den Krieg zu führen.“ 16 Tage nach dem entscheidenden Treffer von Rodríguez fallen die ersten Bomben auf Honduras, als salvadorianische Flieger am 14. Juli um 18.10 Uhr das Nachbarland großflächig angreifen. Einen Tag später folgt die Bodeninvasion.
Die salvadorianischen Truppen sind denen des Nachbarlandes im Verhältnis sechs zu eins überlegen. Honduras hingegen hat die modernere Luftwaffe und bombardiert Ziele im Nachbarland. Nach einhundert Stunden vermittelt die Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) einen Waffenstillstand. „Wir hatten keinen Schuss Munition mehr. Keine Seite war in der Lage, die andere zu besiegen“, sagt Oberst Elvir. Der Krieg war kurz, aber sehr grausam. Beide Seiten griffen tief in das Arsenal der verbotenen Kriegsführung: „Napalm, menschliche Schutzschilde und Hinrichtungen, alles hat es gegeben“, sagt der Ex-Offizier, der ein Buch über den Krieg geschrieben hat und die Todesopfer mit 6000 beziffert, fast ausschließlich Zivilisten.
Der Krieg zwischen Honduras und El Salvador ist vielleicht der brutalste Beleg dafür, wie brüchig in Lateinamerika die Linie zwischen Fußball und Politik ist.
Vor 50 Jahren hätten die Ausscheidungsspiele für die Militärmachthaber beider Länder zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Der Fußball wurde für politische Zwecke in Sippenhaft genommen und zum Sündenbock für zahllose Tote gemacht. Die Region zwischen Mexiko und Argentinien ist auch heute noch fruchtbarer Boden für ähnliche Konflikte.
Leidenschaft für Fußball, schwache Demokratien, eine große Schere zwischen Arm und Reich und eine ungerechte Aufteilung des Landes sowie eine bildungsarme Bevölkerung sind noch immer Nährboden für die Wiederholung eines „Fußballkriegs“. „In Lateinamerika wird der Fußball nie frei von Politik sein“, sagt Pipo Rodríguez. Daheim in San Salvador packt er seine Helden- Medaille wieder in die Schachtel und hält einen Moment inne.
Ein Wendepunkt in seinem Leben
Dann sagt er: „Es wäre doch seltsam zu glauben, dass Sport oder Fußball die Macht haben, Kriege auszulösen. “ Er hofft, dass die Geschehnisse von damals heute so nicht mehr möglich wären. „Die Menschen sind reifer und haben ganz andere Möglichkeiten, sich zu informieren. Wir hatten damals nur Zeitungen und Radios, die praktisch Propagandainstrumente der Regierungen waren und die Stimmung anheizten.“ Die Beziehungen zwischen den beiden Kriegsgegnern haben sich inzwischen wieder normalisiert. Politisch und sportlich.
Begegnungen, wie die am 10. Juni 2009 in San Pedro Sula im Rahmen der WM-Qualifikation für Südafrika, die Honduras wie vor 50 Jahren mit 1:0 gewann, sind Spiele wie jedes andere. Aber es dauerte nach Kriegsende zehn Jahre, bis die diplomatischen Beziehungen wieder hergestellt wurden und fast zwölf, bis sich die Nationalteams beider Länder wieder in einem offiziellen Spiel gegenüberstanden.
Für Rodríguez war die Partie mit seinem Tor vor 50 Jahren ein Wendepunkt in seinem Leben. Auf die Frage, ob er es heute, wissend, was sein Tor mit ausgelöst hat, anders machen würde, antwortet er ohne zu zögern: „Auf keinen Fall. Ich würde es noch mal so machen. Ich war Stürmer und es war meine Aufgabe.“ Und bei dieser Antwort klingt Mauricio Rodríguez überhaupt nicht wie ein Historiker, sondern wie Pipo, der Rechtsaußen.