Der OSC Lille ist französischer Meister! Bei den Feierlichkeiten in der Stadt wird deutlich: Es ist auch ein Triumph der Provinz über das mondäne Paris und das zentralistische Frankreich.
Es ist 23 Uhr. Seit zwei Stunden gilt die landesweite Ausgangssperre. Um diese Zeit sind die Straßen normalerweise bis auf die Lieferhelden leer. Doch heute strömen von allen Seiten Menschen auf den Grand Place im Stadtzentrum von Lille, es riecht nach Pyrotechnik. Überall Bengalos in allen möglichen Farben, Raketen und auch eine Menge Böller. Die ganze Stadt ist in Rot-Weiß getaucht, sogar das hochkulturelle Kunstmuseum am Place de la République. Wo man auch hinsieht, überall jubelnde Fans.
Die offiziellen Zahlen schwanken zwischen 7000 und 8000, manche sprechen sogar von über 10000 Fans, die in der Nacht zu Montag die Altstadt fluten. Corona hin, Abstandsregeln her. Maske über Nase und Mund? Iwo! Heute ist wohl alles egal. Scheiß drauf, Meisterfeier ist nur alle zehn Jahre. Lille ist zum vierten Mal seit Ligagründung 1933 Meister, zuletzt gab es das 2011. Die Polizei hatte schon im Vorfeld angekündigt, im Falle des Titelgewinns beide Augen zudrücken zu wollen.
Die Treppe des Théâtre du Nord wird selbst zur Bühne für die Fans. Einige klettern von hier aus klettern sogar auf die Simse im zweiten Stock. Gleich daneben, an der Fassade eines großen Verlagshauses, prangt ein riesiger Banner mit der Aufschrift„Bravo et Merci au LOSC!” Und die Göttin von Lille, eine Art Friedensengel im Zentrum des Platzes, hat natürlich auch schon ihren roten Schal umgebunden.
„Frankreich ist nicht nur Paris und PSG nicht die Ligue 1. Die neureichen Parisien sind hochnäsig, sie fühlen sich immer überlegen. Doch jetzt sind wir es, die feiern”, freut sich Caroline, die hier schon vor zehn Jahren als Vierzehnjährige mit ihrem Vater war. Auch Christian Sap, Präsident der Fangruppe „Y’est D’dins – Toudis Lillois”, ist stolz, endlich wieder seinen Verein auf den Titelseiten zu sehen. “Normalerweise zeigen die Medien nur PSG. Tag ein, Tag aus. Und jetzt sind wir es, über die man spricht!”
Eins steht fest: Die ehemalige Arbeiterstadt aus dem so oft verspotteten armen Norden, wo die Sch’tis leben und so komisch reden, hat es dem mondänen und protzigen Paris gezeigt. Am Sonntag drückten deshalb viele stellvertretend für ganz Frankreich die Daumen für Lille. Sogar der ehemalige Kölner Serhou Guirassy, heute für Rennes am Ball, gab nach dem Spiel gegen PSG Anfang Mai (1:1) ganz ungeniert zu, dass es ihm „eine Freude” gewesen sei, Paris mit seinem Ausgleichstreffer im Titelrennen auszubremsen.
PSG ist das Sinnbild seiner Stadt: Es gibt zwar einen Haufen Alleskönner und Ausnahmetalente, aber kein Gemeinschaftsgefühl. Während man im Prinzenpark die Trainer wie T‑Shirts wechselt, um seine Stars bei Stange zu halten, steht in Lille seit vier Jahren der gleiche Übungsleiter an der Seitenlinie. Im modernen Fußball ist das inzwischen eine Ewigkeit.
Dass es nun ausgerechnet dieser Marseillais Christophe Galtier geschafft hat, Paris zu übertrumpfen, ist für viele Franzosen der Sieg der Provinz über das zentralistische Frankreich. Denn allgemein gilt: Wer etwas werden will, muss nach Paris. Ausser Meister, dafür geht man ab jetzt nach Lille.
„Auf die Knie, auf die Knie!” Die Menge bereitet sich auf einen veritablen Monster-Pogo vor. Mit glasigen Augen stiert Augustin, 26 Jahre alt, nun auf den Mann mit dem Megafon.„Ich bin mit drei Jahren das erste Mal im Stadion gewesen. 2018 sind wir fast abgestiegen und jetzt sind wir Meister. Das ist einfach unbeschreiblich”, freut er sich ein bisschen angeschickert – vor Glück und vielleicht auch von seinem achtprozentigen nordfranzösischen Flüssigbrot.
Die Generation 2011 beobachtet die Party mit ein bisschen Abstand. Laëtitia, 40, ist seit 18 Jahren Mitglied beim größten Fanclub des Vereins,„Dogues Virages Est”, den Doggen der Ostkurve. Für sie ist es heute ein ganz besonderer Abend, nicht nur wegen der Meisterschaft.„Mein Lebensgefährte hat mich damals zum LOSC mitgenommen. Er ist dieses Jahr verstorben. Ich bin auch wegen ihm hier.”