Manuel Neuer ist wieder ganz der Alte, Jerome Boateng und Mats Hummels weinen sich gegenseitig in den Schlaf und Timo Werner ist bald im Tatort zu sehen. Die Nationalelf in der Einzelkritik.
Manuel Neuer
Als Manuel Neuer kurz vor Schluss mit nach vorn ging, hatte man kurzzeitig Hoffnung, dass es doch noch mit dem Ausgleich klappt. Es wäre so schön gewesen, wenn Neuer noch eine Flanke eingeköpft und danach mit einem „Was soll ich denn noch alles machen?“-Blick dagestanden hätte. Hat er leider nicht, dennoch die beste Wiedereingliederungsmaßnahme seit Ben Tewaag.
Joshua Kimmich
Kimmich läuft und läuft und läuft, besonders gern nach vorn. Im Angriff deswegen oft an den wenigen guten Situation beteiligt, dafür hätte es in der Kreisliga dennoch einen Anschiss vom Libero gegeben, der hinten mehrmals seine Lücken schließen musste. Ein abschließendes Urteil über ihn: zwar noch nicht rechtskräftig, aber eine schwache Verteidigung.
Mats Hummels
Der Abwehrchef musste so viele Brandherde löschen, dass er selbst ab und zu ins Schwimmen geriet. Hatte im Angriff einmal den deutschen Treffer auf dem Fuß, dabei weiß er selbst, dass er es mit dem Kopf besser kann. Gewohnt sicher war Hummels anschließend vor den Mikrofonen und verteilte dort nach dem Spiel mehr Mahnungen als mancher Gerichtsvollzieher. Für die Zukunft sollte Löw dennoch überlegen, ob eine Zweierkette mit Boateng ausreicht.
Jérôme Boateng
Es hätte uns nicht gewundert, wenn sich Boateng zur Mitte der zweiten Halbzeit an den eigenen Sechzehner gesetzt hätte, um sich eine Decke umzulegen und mit stummen Tränen einen Drei-Liter-Pott Vanilleeis zu essen. Dabei ein wenig „Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück“ schauen und zu sich selbst sagen: „Ich bin eine liebenswerte Person. Ich brauch die anderen gar nicht.“ Denn selten wurde ein Mensch derart allein gelassen wie Boateng von seiner Vordermannschaft. Konnte sich darauf aber nicht konzentrieren, weil er entweder Mats Hummels (genauso allein) tröstend in den Arm nehmen oder einen anstürmenden Mexikaner weggrätschen musste.
Marvin Plattenhardt
Ein undankbareres Debüt auf der Weltbühne haben wir zuletzt von AJ McLean auf Solotour gesehen. Kennen Sie nicht? Das ist der unscheinbare Typ von den Backstreet Boys, der 2011, als die große Zeit der Band vorbei war, es noch einmal allein probierte. Und auch im Fall von Marvin Plattenhardt sind wir uns nicht ganz sicher, ob ihn jeder Teamkollege bis gestern Abend kannte, derart offensichtlich wurde er ignoriert. Folgender Dialog soll sich genau so und gleich mehrfach abgespielt haben. Julian Draxler: „Hallo? Wer sind Sie denn? Und warum haben Sie ein Deutschlandtrikot an?“ – Plattenhardt: „Ähm, ich bin der Marvin und spiele hier Linksverteidiger.“ – „Das ist ja schön, aber warum stehen sie dann an meiner Eckfahne? Und ist das richtig, dass der Mexikaner da hinten allein auf unser Tor zuläuft? – „Was?“ – „Was?“
Toni Kroos
Der deutsche Dreh- und Angelpunkt hat eine unglaubliche Präzision in seinen Weitschüssen, er trifft meist perfekt die Arme des gegnerischen Torhüters. Man würde ihm wünschen, dass er mal einen Ball nicht perfekt trifft, damit die Kugel mal im Eck einschlägt. Ansonsten eine gefühlte Passquote von 150%. Für die gute alte Taktik „Brechstange“ wirkt er allerdings überqualifiziert.
Sami Khedira
Wirkte auf dem Platz wie Reinhold Messner auf dem Rückweg vom K2: Er hatte den Zenit überschritten. Vor dem Gegentor sorgte er für den unnötigen Ballverlust in der Vorwärtsbewegung, weil er ins Eins-gegen-Eins ging, statt den Ball auf die rechte Seite zu spielen. Das 11FREUNDE-Chauvinismusressort meint: Seine schlechteste Entscheidung seit der Trennung von Lena Gercke.
Julian Draxler
Julian Draxler wird häufig vorgeworfen, dass er in der Nationalmannschaft ineffizient und für die Galerie spielen würde. Einer, der nicht da sei, wenn es drauf ankommt. Dafür gäbe es keine Belege, sagen andere, die dann auf den gewonnen Confed Cup und tolle Spiele für Schalke 04 verweisen. Schön, dass sich Draxler auf die Seite seiner Kritiker stellt.
Thomas Müller
Wenn wir uns im Leben auf nur drei Dinge verlassen dürften, dann diese: Bei Mutti schmeckt’s. Der Bus kommt immer dann zu spät, wenn wir pünktlich sind – und andersrum. Und: Thomas Müller wird pünktlich zum ersten WM-Gruppenspiel besser als Ronaldo und Messi zusammen. Seit heute müssen wir uns eingestehen: Auf Müller ist kein Verlass mehr, auf die BVG war es noch nie. Also: Bitte, Mama, tu’ uns das jetzt nicht an!
Mesut Özil
Musste beim Gegentor als Verteidiger einspringen, weil Kimmich gerade mit einer Runde „Flanki-Ball“ beschäftigt war, dafür hielt sich Özil im Duell vornehm zurück. Bescherrscht im Angriff nach wie vor die große Kunst der Magie: Unsichtbarkeit. Beste Szene von ihm an diesem Tag: kein Foto mit irgendeinem Despoten gemacht.
Timo Werner
In naher Zukunft würden Timo Werner gerne als Gangster in einem Tatort mit Ballauf und Schenk sehen. Denn der Mann hat es derart gut drauf, ein Alibi vorzutäuschen, dass daran sogar die Kölner Superermittler scheitern könnten. Finale furioso unseres Drehbuchs: Ballauf (mit Schreibtischlampe auf Werner gerichtet) brüllt: „Jetzt geben Sie’s endlich zu, dass Sie der deutsche Stürmer sind und bieten Sie sich an!“ Werner: Geht einen Schritt zur Seite und verschwindet in der Dunkelheit.
Marco Reus
Er sei davon ausgegangen, dass er nicht spielen würde, weil so ein Turnier schließlich lang sei und er, also Reus, „vor allem in den wichtigen Spielen“ gebraucht werde. So verriet Marco Reus, dass sein Trainer dieses erste Gruppenspiel wohl als besseren Test ansah. Und sich damit schlimmer verzockte als wir, nachdem wir beim Roulette „alles auf Gelb“ setzten.
Mario Gomez
Während der zweiten Halbzeit frage man sich durchgehend: „Wann Gomez, wenn nicht jetzt?“ Reihenweise sah der einzige echte Mittelstürmer von der Bank aus Flanken in den Strafraum fliegen. Als er dann spät reinkam, war er zweimal gefährlich am Ball. Ein Tor gelang ihm allerdings auch nicht.
Julian Brandt
Tat das, was ein Einwechselspieler bei Rückstand eben tun soll: Für Gefahr sorgen. Doch statt für seine, in zehn Minuten Einsatzzeit sehr beachtlichen Leistung, gelobt zu werden, kritisierten ihn manche anschließend, weil er es trotz des drohenden Untergangs des deutschen Fußballabendlandes wagte, ein Foto mit einem jungen Fan zu machen. Dabei weiß jeder, dass Selfieschießen für die sportliche Leistung in etwa so wichtig ist, wie das Singen der deutschen Hymne: gar nicht.