Super League, Champions-League-Reform, Milliardenverträge: Bald wird der Fußball seiner eigenen Simulation gleichen. Er wird so aussehen wie ein Videospiel, er wird so sein wie eine Serie auf Netflix. Eine Dauerwiederholung, ein Produkt auf Abruf. Kein Glückwunsch dazu!
1976 schoss Uli Hoeneß den wichtigsten Elfmeter seiner Karriere in den Himmel von Belgrad. Der RSC Anderlecht gewann gegen West Ham United den Europapokal der Pokalsieger. Tennis Borussia Berlin stieg in die Bundesliga auf. Und der französische Philosoph Jean Baudrillard schrieb sein Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“. Mit einer Mischung aus Ironie und Sorge erklärt er darin die Hyperrealität, also ein idealisiertes und den Vorstellungen eines Künstlers entsprechendes Bild eines wirklich existierenden Objektes; ein Abbild von etwas, das es in der Realität gar nicht gibt.
Womit wir im Jahr 2021 wären, dem Superjahr der Super League. Einem Fußballwettbewerb, der wie die überhöhte Idee eines Sports erscheint, den wir mal zu kennen glaubten. Eine geschlossene Liga ohne Unterbau, eine Show, die nicht mehr gebunden ist an Orte oder Menschen, an Farben oder Stadien. Sie könnte überall stattfinden, vor animierten Figuren in London, vor realen Zuschauern in China, vor niemandem auf dem Mond. Ein Science-Fiction-Fußball. Eine Fußball-Hyperrealität.
„Für Fans aus München, Madrid oder Barcelona wäre es toll, wenn diese Teams immer gegeneinander spielen könnten.“
In den vergangenen Jahren hat sich der Fußball stetig einer Simulation angenähert. Er wurde digitaler, fehlerfreier, nahezu perfekt. Die Figuren in Videospielen sind von den echten Athleten kaum noch zu unterscheiden. Oft muss man zweimal hinschauen, wer da gerade über den Bildschirm läuft, Cristiano Ronaldo auf Sky oder Cristiano Ronaldo auf der Playstation. Und wer lernt eigentlich von wem: Die Videospielfigur Kylian Mbappé von dem realen Spieler Kylian Mbappé oder der echte Mbappé von seinem Avatar?
Der große Unterschied zum Videospiel war lange die Verfügbarkeit. Auf dem Computer kann man jederzeit Real Madrid gegen Manchester United antreten lassen. Man kann seine Teams alle paar Minuten zum großen Triumph in der Champions League führen. Den Nachteil, dass das in der realen Welt so nicht funktioniert, versuchen die selbsternannten Fußballbestimmer zu beheben, indem sie jeden Tag eines Kalenderjahres mit Fußball belegen – die Spieltage der nationalen Ligen werden über mehrere Tage verteilt und die internationalen Wettbewerbe bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, zwischendrin dürfen wir die Superspieler noch in Freundschaftsspielen und Fantasieturnieren beklatschen.
Von einer europäischen Superliga träumen diese Fußballbestimmer seit Jahrzehnten. Schon 1990 erklärte Marseilles damaliger Präsident Bernard Tapie im „Spiegel“: „Für Fans aus München, Madrid oder Barcelona wäre es toll, wenn diese Teams immer gegeneinander spielen könnten.“ Man wolle die Fans mit neuen Attraktionen und Geschichten ins Stadion locken, „mit Laser-Shows und Feuerwerken schaffen wir Faszination“.
Auch andere Vereinsfürsten fanden diese Idee ganz gut und forcierten eine unabhängige Superliga. Die Uefa musste handeln – und schuf für die Superklubs die Champions League.
Der aktuelle Vorstoß mag also wieder eine Nebelkerze sein, ein Druckszenario, auf das die Uefa reagieren muss. Mit Reformen, die die Superklubs noch superer machen. Aber im Grunde ist das nebensächlich, denn die nächste Liga, egal wie sie heißt, wird kommen. Sie wird der nächste Schritt zu einer Dauerwiederholung und zur Reproduktion einer Reprdouktion sein, die den Zauber eines Ereignisses zerstört. Die sogar die Aura und Besonderheit eines Champions-League-Spiels zunichte macht.
Das mag pathetisch klingen, aber wie beliebig wirken heute schon Partien zwischen PSG und Manchester United? Wie groß ist die Vorfreude auf ein Halbfinale zwischen Barcelona und Bayern? Oft nur unwesentlich größer als die Vorfreude auf eine Wiederholung einer Folge „Rach, der Restauranttester“.
Die Geschichten sind auserzählt. Selbst die Feuerwerke und Laser-Shows zünden nicht mehr. Das merken die Fußballbestimmer. Also müssen neue Geschichten her, überraschende Wendungen. Die Lösung könnte sein, die Ligen spannender zu machen, etwa durch eine gerechtere Verteilung der TV-Gelder. Aber nein, die Antwort der Fußballbestimmer lautet immer: Mehr! Mehr Geld, mehr Perfektion und vor allem mehr Content. Bald wird sich der Fußball anfühlen wie ein austauschbares Medienprodukt auf Abruf. Ein Spotify-Song, ein Netflix-Film, Fußball on demand. Bis sogar die tollsten Spiele untergehen in einer Materialmasse, die niemand mehr durchdringen kann.
Vielleicht sind dann längst keine Fans mehr da, jedenfalls nicht die, die sich vor Jahrzehnten in die Klubs verliebt haben. Aber das ist egal, denn andernorts sind die Märkte noch lange nicht geschröpft. In Asien gibt es Millionen Fans von Real Madrid, Juventus Turin oder Manchester United, die eine Super League wirklich ganz super finden. Heute erklärte die Fan-Seite „Madridista Indonesia“ (127.000 Abonnenten), dass Florentino Perez dann endlich genug Geld hätte, um Haaland und Mbappé zu kaufen.
Es ist ein bisschen wie bei einer bekannten Serie, die einst spannend begann und sich irgendwann im Nonsens verlor. Als es zu wild und irre wurde, sprangen viele Leute ab, aber die Macher setzten immer noch einen drauf. Sie quetschten das Produkt aus, zogen es in die Länge, bis man erschöpft den Fernseher anflehte, dass er doch aufhöre zu senden. Ihr Titel passt ganz gut auf die aktuelle Gefühlslage im Fußball: „Lost“.