Als Thomas Müller sich selbst zurückrufen wollte, war es schon zu spät. „Jetzt wird es etwas schnulzig“, sagte er, und das wollte er eigentlich nicht. Müller mag zwar ohne Unterlass reden und seine Umwelt in die Bewusstlosigkeit quasseln, aber als sentimentale Type möchte er dabei dann doch nicht überkommen. Aber irgendwie war die Stimmung nach dem Gewinn der Champions League da schon nach Gefühligkeit. Joshua Kimmich schwärmte, wie schön es sei „mit Brüdern“ einen solchen Sieg zu feiern. Und Manuel Neuer, bei dem man doch eigentlich schon länger nicht mehr weiß, ob er überhaupt noch ein Mensch ist, sagte: „Es hat noch nie so viel Spaß gemacht und ich bin schon lange dabei.“ Wie sich das ausdrückt, das hatte Müller bereits dem schnulzigen Satz von Mario Gomez zugestimmt, der in einem Motivationsvideo für die Bayern gesagt hatte: „Wir streiten darum, wer den Fehler des anderen ausbügelt.“
Man könnte diese Aussagen mit dramatischen Streichern unterlegen, weil’s halt purer Kitsch war – von den sich helfenden Brüdern. Man könnte dazu noch das Video zeigen, dass die Spieler vor dem Spiel zu sehen bekamen, mit den besten Wünschen von ihren Frauen und Kindern, Eltern und Geschwistern, von dem Trainer Hansi Flick mit glasigen Augen erzählte. Man könnte das alles gehörig ironisieren und schlichtweg verspotten, mit Hinweis auf den #qlassico, den Qatar Airways ausgerufen hatte, als vermeintlich Derby der beiden katarischen Klubs aus Paris und München. Oder auf die dicken Prämien, die nun auf die Konten der Brüder mit dem umflorten Blick plumpsen.
Dabei würde man jedoch übersehen, dass es selbst bei den bestbezahlten Profis und globalen Superstars eine echte Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zusammenhalt gibt, die sich kein bisschen von der anderer Menschen unterscheidet. Es ist aber auch sportlich von Belang, ob es einem Trainer gelingt, dieses Gefühl herzustellen. Interessant daran ist, dass man nicht durch Teamübungen im Kletterpark oder irgendwelche Psychotricks dazu kommt, sondern durch so altmodische Werte wie Glaubwürdigkeit und Integrität.
Die meisten Fußballprofis machen im Laufe ihres Berufslebens nicht wenige enttäuschende Erfahrungen. Trainer schwindeln ihnen Chancen vor, die sie letztlich gar nicht haben. Sie geraten ins Vergessen, wenn sie mal verletzt sind. Manager spielen Spielchen mit ihnen, wenn es um Vertragsverlängerungen geht. Gerade weil so viel Geld im Umlauf ist, glauben viele Verantwortliche, dass sich Abgebrühtheit und Zynismus von selbst erlauben. Spieler werden nur noch wie Teile von Mannschaftsmaschinen betrachtet, die man austauschen und ersetzen kann.
Schon vor dem Finale hatte Kimmich über Hansi Flick gesagt, dass es beim Bayern-Trainer ausdrücklich nicht so sei: „Für ihn sind wir nicht nur Spieler, die er benutzt, sondern er sieht auch den Menschen dahinter.“ Es ist eher kein Zufall, dass das auch für die beiden anderen Trainer galt, die mit dem FC Bayern die Champions League gewonnen haben: Ottmar Hitzfeld und Jupp Heynckes. Es ist sogar so, dass es selbst in der Welt der Superklubs ein entscheidender Wettbewerbsvorteil ist, wenn über glaubhafte Wertschätzung ein besonderes Gemeinschaftsgefühl erschaffen wird. Oder gerade da, weil immer so viele Kicker zuschauen müssen, die andernorts garantiert zum Einsatz kommen würden.
Das war nicht die Erklärung für den Sieg in einem Finale, das die Bayern auch hätten verlieren können. Aber es ist die Erklärung für eine Siegesserie, wie sie selbst der FC Bayern noch nicht erlebt hat. Die Münchner waren nicht nur in Lissabon im Flow, sondern sind es schon seit Monaten gewesen, sogar über die Corona-Pause hinweg. Übrigens scheint Thomas Tuchel bei Paris Saint-Germain Ähnliches gelungen zu sein. Beim Turnier in Lissabon wirkte sein Team nicht mehr wie ein Sammelsurium von Instagram-Influencern oder die Fußballversion der Harlem Globetrotters, sondern wie eine echte Fußballmannschaft. Das galt auch für die anderen Mannschaften des Mini-Turniers in Lissabon – abgesehen vom FC Barcelona und mit Abstrichen Manchester City.
Vielleicht wurde dieser Aspekt gerade deshalb so deutlich, weil kein Publikum dabei war, und die Teams mehr Energie aus sich selbst schöpfen mussten als sonst. In der Leere des Estadio da Luz bekam der Triumph etwas Bezirksligahaftes, er wurde nicht ins Übermenschliche vergrößert, sondern seine Protagonisten blieben nahbar. Neben all den deprimierenden Auswirkungen der Corona-Krise auf den Fußball, ist das eine der wenigen guten. Superstars wirken so menschlich wie lange nicht, und erfolgreich sind die, die mit ihnen wie Menschen umgehen.
Korrektur: In der ersten Version des Textes war das Zitat von Mario Gomez versehentlich Thomas Müller zugesprochen worden.