Stell dir vor, es ist Länderspiel – und keinen interessiert’s. Wo steht die deutsche Nationalmannschaft?
Dieser Text erschien in Ausgabe #218 im Januar 2020 und ist hier zum ersten Mal online in voller Länge zu lesen. Das Heft ist im Shop erhältlich.
Serge Gnabry betritt Mitte November die Altberliner Kneipe „Bornholmer Hütte“ im Bezirk Pankow. Die Gäste und die Wirtin schauen überrascht, als der überragende Torjäger der Nationalmannschaft ihnen das neue Trikot überreicht. Danach findet Gnabry noch Zeit für ein Kartenspiel und eine Partie Tischkicker. Das lässt sich in einem Video des Ausrüsters bestaunen, der noch weitere Spieler zu Überraschungsbesuchen herumgeschickt hat. Allerdings kennen Sportjournalisten bestimmte Lokalitäten besser als Stadien; und zwar Kneipen. Die „Bornholmer Hütte“ ist, anders als im Video, für gewöhnlich urig-durchgeräuchert und nicht mit schwarzrotgoldenen Fahnen oder Schlandketten an der Wand dekoriert. Auch die Visite von Timo Werner in einem Bolzkäfig wirkt nur so lange überraschend, bis man bemerkt, dass alle Kinder vom Ausrüster des Nationalteams ausstaffiert sind. Die „Spontanbesuche“ waren durchchoreografiert.
Nun sind jedem Sportartikelhersteller seine Werbefilmchen selbst überlassen. Doch die inszenierte Volksnähe illustriert das Identitätsproblem der deutschen Nationalelf im Herbst 2019. Seit der Heim-WM 2006 besuchten im Schnitt nie so wenig Zuschauer die Spiele, selbst Klassiker gegen Argentinien fanden vor erschütternd dünn besetzten Rängen statt. Fans und Fußballinteressierte wenden sich nicht nur von der Mannschaft ab, sie begegnen ihr mittlerweile oft mit einer lakonischen Gleichgültigkeit. Der geläufigste Satz rund um die letzten Auftritte war wohl: „Ach, die spielen heute?“ Oder wie es zwei der unzähligen Deutschlandfahnenflüchtigen in Kommentaren auf der 11FREUNDE-Facebookseite ausdrücken:
„Die Mannschaft powered by Coca Cola hat mir den Rest gegeben. #zsmmn oder wie das heißt war der letzte Sargnagel.“
„Russland war der kalte Entzug einer dekadenten Schnöseltruppe für mein Fanherz und das Länderspiel in Hamburg die Vollendung.“
Die Vollendung ist auf dem Vorplatz des Mönchengladbacher Stadions zu besichtigen. Gleich spielt Deutschland gegen Weißrussland, und der Zirkus ist in der Stadt. Links stehen die Trucks der DFB-Sponsoren, Selfiestände laden dazu ein, Fotos neben dem neuen Trikot zu machen. An einem weiteren Stand fragt ein Moderator ein Kind nach dessen Tipp. Lautstarke Retour: „4:0 für Bayern.“ Ein mobiles Schminkkommando stürzt sich auf die Besucher, flippige Volunteers verteilen Deutschlandfahnen, die angeblich aus dem Vorrat der WM 2018 stammen. Vor dem Zelt des Fanclubs Nationalmannschaft spielt „Yeti“, eine Blaskapelle. Zwanzig Männer in Ganzkörperfellanzügen, ausgestattet mit Pauken, Trompeten und demonstrativ guter Laune. Normalerweise spielen sie auf Volksfesten, Feuerwehrjubiläen, Möbelhauseröffnungen.
Selfiestand, Schminktrupp, Yetiband – bei Länderspielen ist regelmäßig der Zirkus in der Stadt.
Heute stehen sie vor einem Fußballstadion und kommen gut an. „So gehen die Deutschen, die Deutschen, die gehen so.“ Der Gesang, der sogar in der allumfassenden Jubelstimmung des WM-Triumphs für Kritik gesorgt hatte, löst hier beinahe orgiastischen Jubel aus. Kinder scharen sich um die Band, Erwachsene in Fleece- und Steppjacken machen begeistert Fotos mit ihren Handykameras. Die Mitglieder der Kapelle gehen in die Hocke: „So gehen die Holländer, die Holländer gehen so.“ Von einer gewissen Demut gegenüber dem großen Rivalen ist hier zumindest nichts zu spüren. Ähnlich wie vor Monaten in Hamburg: Da bemerkte der Fanclub Nationalmannschaft erst im letzten Augenblick, dass der schwarzrotgoldene Gruß „Vollgas“ bei den Gästen aus den Niederlanden nicht die allerbesten Assoziationen hervorrufen würde. Schnell wurde „Vollgas“ in „Volley“ umgetextet. Gegen Weißrussland muss dann Walt Disney herhalten. Oder ein Glückskeks: „Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen“, steht auf einem Tribünenbanner. Ein anderes Transparent am Stadiontor mit der Aufschrift „Korrupte Verbände stoppen“ wurde hingegen entfernt.