Drei Fußballfans werden Opfer von Polizeigewalt. Einer klagt, zwei werden angezeigt. Ihre Unschuld kann nur durch Videos bewiesen werden. Warum es für die Justiz schwer ist, auf falsche Einsatzberichte zu reagieren und Feindbilder bestehen, die keine sein müssten.
„Gib das Ding her! Gib das her jetzt!“, schreit ein Polizist in blauer Uniform und rennt über den Stiftsplatz in Kaiserslautern auf Fußballfan Torsten Dümpf* zu. Das Bild wackelt, im Hintergrund sieht man kurz andere Uniformierte, wie sie sich über einen am Boden liegenden Mann beugen, dann ruckelt es und man erkennt nur noch eine beige Hose und ein paar Füße. Zwei Stimmen sind zu hören: Die eine ist tief und weiter entfernt, sie murmelt: „Und ich sag noch zu ihm, er soll das lassen.“ Die andere gehört einer Frau, die in den letzten Sekunden der Aufnahme ruft: „Hey, hört auf, was soll das?“, dann bricht das Video ab. Was danach geschieht, schildert der 28-jährige Außendienstmitarbeiter, der das Video drehte, unter anderem in einem ausführlichen Bericht auf der Webseite der „Rot-Weißen Hilfe“ und auf der Wache, wo er Anzeige erstattet.
An einem Augustsonntag wird Torsten Dümpf*, so schreibt er, Opfer von Polizeigewalt. Er filmte die rohe Vorgehensweise der Beamten gegen einen anderen Fußballfan. Ein Polizist bemerkt das und versucht die Aufnahmen zu verhindern. Er zückt seinen Schlagstock und ringt den FCK-Fan zu Boden, um ihm dabei das Handy abzunehmen. Dümpf aber behält es in der Hand. Daraufhin sprüht ihm der Beamte mit Pfefferspray in die Augen. Der FCK-Fan hört auf sich zu wehren. Der Polizist lässt von ihm ab.
Nachdem sich die Situation beruhigt hat, versucht Dümpf, bei umstehenden Beamten vor Ort Anzeige zu erstatten. In seinem Bericht schildert er, dass er aber im Gegenteil eher befürchten muss, doch noch das Handy abgeben zu müssen. Erst auf einem Polizeirevier kann der Fußballfan Anzeige gegen den Beamten erstatten. „Ein Novum“, sagt Fanforscher Jonas Gabler „Meist verzichten Fußballfans auf eine Anzeige gegen Polizisten, weil das häufig mit Gegenanzeigen beantwortet wird.“
Auf Anzeige folgt Stadionverbot
Der 33-jährige Fanexperte weiß, dass Fans, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, häufig von den Vereinen mit Stadionverboten belegt werden, weshalb viele Fans auf Anzeigen verzichten. Doch warum kommt es zu Situationen, in denen Polizisten aggressiv vorgehen oder gar versuchen, Beweismittel ihrer Fehlhandlungen zu beschlagnahmen, wie jüngst in Kaiserslautern?
Bei einem Fußballspiel gibt es seit jeher einen Interessenskonflikt: Da stehen auf der einen Seite die Fans, die zum Fußball gehen, „um den Alltag mal hinter sich zu lassen“, sagt Gabler, „die ein Stadion als einen Freiraum begreifen, einen Ort, an dem sie sich mal nicht an alle Regeln halten müssen.“ Und auf der anderen Seite stehen die, die genau deshalb da sind, damit alle Regeln eingehalten werden – die Polizisten. Die hätten ein „typisches polizeiliches Gesellschaftsbild“, in dem Gesetze einfach nicht gebrochen würden. Die Beamten teilten ein nach „legal und illegal“, „Straftat und Nicht-Straftat“.
Fans und Polizisten nehmen Fußballspiele und Konfliktsituationen am Spieltag unterschiedlich wahr. Fans, die gemeinsam ins Stadion gehen, die zusammen Zug fahren und Bier trinken, die Choreos einüben, die ihr Team zu Hause und auswärts anfeuern „unterhalten sich natürlich nicht darüber, wenn ein Polizist besonders nett zu ihnen war“, sagt Gabler. Erzählt werden Geschichten, bei denen die Polizei zu hart gegen Fans vorgegangen ist. Ähnlich ist es auch bei der Polizei. Selbst wenn ein Beamter nicht unmittelbar an einer Auseinandersetzung beteiligt war, so erfährt er doch spätestens in der Nachbetrachtung des Spieltageinsatzes davon.
Durch diese selektive Wahrnehmung einzelner Situationen entstehen die Feindbilder vom „betrunkenen Randale-Fan“ und vom „scheiß Bullen“, die eine ganze Masse beschreiben. „Es gibt jeweils nur eine generalisierende Wahrnehmung vom Fan oder eben vom Polizisten. Nach einzelnen Personen differenziert kaum einer“, erklärt der Fanforscher. Grund dafür sei auch die besonders starke innere Bindung beider Gruppen. Polizeiforscher Rafael Behr meint damit das vor allem in Polizeikreisen stark vorherrschende „Wir-Gefühl“. Die Polizisten würden dazu neigen, eine eigene „cop culture“ auszubilden, „eine Kameradschaft, in der Solidarität zum absoluten Wert aufsteigt.“
Einsatzbericht: Falsch!
So könnten, meint Behr, nicht nur Alltagssituationen, sondern vor allem gefährliche Erlebnisse verarbeitet werden. Diese starke Konzentration auf die „innere Gruppe“, führe, laut Fanforscher Gabler, aber auch zu einem Abgrenzungsverhalten zu den „out-groups“. So kommt es zu Vorurteilen und Vorannahmen, die wahrscheinlich auch im nächsten Fall dazu führten, dass ein Polizist die Kontrolle verlor:
Am 26. Juli 2013 geht Jochen Müller*, so wird sein Einsatzbericht auf der Webseite der „Rot-Schwarzen Hilfe“ beschrieben, eine Treppe am Ingolstädter Hauptbahnhof herunter und wird plötzlich fest in den Rücken getreten. Der Polizeihauptmeister erschrickt und dreht sich um. Ihm steht ein wütender Bamberger Fußballfan gegenüber, der im selben Moment eine Bierflasche am Geländer zerschlägt. Ein Glassplitter fliegt in Müllers Gesicht und trifft ihn unterhalb des Jochbeins. Er entfernt ihn später selbst auf der Wache, kurz bevor er den 24-jährigen Jonas Sparber* wegen gefährlicher Körperverletzung anzeigt. Doch nicht der Student, sondern der Polizist wird am Ende verurteilt. Warum? Weil das, was sich wie ein alkoholschwangerer Angriff eines Fans auf einen Polizeibeamten liest, nicht stimmt. Herausgekommen ist das nur, weil auch hier ein anderer Bamberger Fan zufällig die Situation filmte.
Die Szenen im Video beschreibt der Rechtsanwalt des Bamberger Fans, Jahn-Rüdiger Albert, so: „Das Video zeigt, dass mein Mandant zwar die Treppe hinuntergeht, aber ob er den Beamten fahrlässig schubst oder das aus Versehen passiert, lässt sich nicht erkennen. Der Beamte dreht sich um und fängt sofort an, mit dem Schlagstock auf ihn einzuschlagen. Dann kommen weitere Beamte hinzu, die ihn zu Boden bringen und dort fixieren. Man sieht, wie der erste Beamte ihm nochmal mit dem Schlagstock auf den Rücken schlägt. Das Entscheidende aber ist, dass mein Mandant zwar eine volle Bierflasche in der Hand hält, die aber weder gegen ein Geländer schlägt, noch den Polizisten damit bedroht. Es gab so eine Situation, wie in dem Polizeibericht beschrieben nicht.“
Hinzu kommt, dass der Beamte, trotz seiner über 21-jährigen Diensterfahrung, so argumentierte das Ingolstädter Amtsgericht, völlig unverhältnismäßig reagierte. Nahezu grundlos zückt er den Schlagstock und ringt den Fan dann zu Boden. Für diese Art gefährlicher Körperverletzung, aber vor allem wegen der Verdächtigung und Verfolgung Unschuldiger wurde der Ingolstädter Polizist in erster Instanz zu 16 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Seinen Job wäre er damit los, deshalb hat er nun Berufung eingelegt.
Polizisten wird vor Gericht eher geglaubt
Warum der Polizeihauptmeister den Studenten Sparber überhaupt anzeigte, ist unklar. Laut Sparbers Anwalt Albert zeigte sich der Beamte auch während des Verfahrens nicht einsichtig. Das Problem, das sich in diesem Fall zeigt, ist jedoch ein viel schwerwiegenderes, wie die Urteilsverkündung des Ingolstädter Amtsgerichts zeigt: „Hätte man hier kein Video, hätten 20 Fans aussagen können, was sie wollen, man hätte dem einen Beamten geglaubt“, sagte der zuständige Richter Christian Veh. Generell sei es oft so, dass Polizisten vor Gericht, schon aufgrund ihrer Beamtenautorität mehr Glauben geschenkt werde, erklärt Gabler. Wie kann das sein?
Weder das zuständige Amtsgericht, noch die Polizei Ingolstadt wollten sich persönlich zu dem Fall äußern. Fan-Anwalt Albert, der auch Rechtsberater der Nürnberger Fan-Hilfe „Rot-Schwarze Hilfe“ ist, meint, dass Gerichte den Polizisten alleine durch ihren Beruf eine objektivere Wahrnehmung zusprechen. Zudem seien sie aufgrund ihres Status‘ dazu verpflichtet, die Wahrheit zu sagen und würden deshalb als besonders neutral eingeschätzt, weil sie selbst gar kein persönliches Interesse am Ausgang eines Falls hätten. Auch Fanforscher Gabler bestätigt, dass Polizisten vor Gericht „so oder so eine höhere Glaubwürdigkeit“ zugestanden werde.
Gabler sieht den Aspekt der Polizeigewalt des ersten Falls als nichts Besonderes, wohl aber das Kalkül, mit dem der Beamte den Fan anzeigte. Über einen ähnlichen Fall berichtete auch das österreichische Fußballmagazin „ballesterer“ im Juli:
2003 soll der damals 19-jährige Daniel Andresen* Revierinspektor Alfred Konrad* im Innsbrucker Tivoli so gegen eine Stadionbande geschubst haben, dass der Polizist fiel und einen Bandscheibenvorfall erlitt. Infolge dessen sei der Beamte nicht mehr dazu in der Lage gewesen, besserbezahlte Außeneinsätze zu leisten. Deshalb klagte er wegen Verdienstausfällen auf Schadensersatz. Der Innsbrucker Fan wurde verurteilt und musste 165.000 Euro zahlen. Dieses Jahr erfuhr der Anwalt des Fans zufällig, dass die strittige Szene nach dem Spiel zwischen Innsbruck und Kapfenberg 2003 auf Video aufgezeichnet wurde. Darin zeigt sich, dass der Polizist, nie über eine Bande gefallen war. Das Verfahren wurde aufgrund des Videos dieses Jahr neu aufgerollt und der Innsbrucker Fan im Nachhinein freigesprochen. Ob er in einem neuen Prozess gegen den Beamten erfolgreich sein wird und sein Geld zurückerhält, ist allerdings unklar.
„Polizeiarbeit ist nicht immer fehlerfrei und neue technische Möglichkeiten machen das nachweisbar. Die Polizei muss sich also in ihren Grundstrukturen ändern“, sagt Fanexperte Gabler. In anderen europäischen Ländern fände dies bereits statt. Hier gäbe es zum Beispiel unabhängige Ombudsstellen, auf denen sich Bürger über Polizeifehlverhalten beklagen könnten. Gabler schlägt zudem Evaluationen von Polizeieinsätzen vor, die erheben, „ob mehr Polizei bei Fußballeinsätzen auch mehr Sicherheit bringt oder ob man Polizisten wesentlich effizienter einsetzen könnte, wenn man an Einsatzstrategien feilen würde.“
Vom „Bad Boy“ zum „Good Cop“
Gabler hat vor allem in deutschen Großstädten eine kritische Grundstimmung der Bürger gegenüber den Obrigkeitsstrukturen der Polizei festgestellt. Das Image vom „Freund und Helfer“ wankte, vielmehr würden Polizisten als „Bad Boys“ gesehen. Das wollen die Beamten nicht und sind deshalb um eine Rundumsanierung ihres Images‘ bemüht. Wissenschaftler wie Rafael Behr, Dekan der Polizeiakademie in Hamburg, der zuvor selbst Polizist war und nun vor allem die inneren Strukturen des Polizeiwesen untersuchten, machen hier den Anfang.
Auch die Fanszenen wandeln sich: „Fans, die heute mit der Polizei konfrontiert sind, haben nicht mehr so ein homogenes Verhältnis zu Gewalt wie vor ein paar Jahren. Es gibt Leute, die dem gegenüber aufgeschlossener sind, es gibt aber auch sehr ablehnende Haltungen. Leute, die auf Gewalt überhaupt keine Lust haben.“ Daher hätten sich in den vergangenen Jahren Fanhilfen wie die „Rot-Schwarze Hilfe“ in Nürnberg, die den Ingolstädter Fall in einer Pressemitteilung publik machte oder die „Rot-Weiße Hilfe“, die dem Kaiserslautern-Fan rechtlichen Rat gab, gegründet. Über diesen Weg versuchen Fans auf juristischem Weg ihre Rechte einzufordern. Das sei, so Gabler, ein allmählicher Wandel, der irgendwann vielleicht dazu führe, dass es auf beiden Seiten heißt: „Weg von den Fäusten, hin zum Wort.“
Die mit * gekennzeichneten Namen wurden hier, aufgrund laufender Verfahren, geändert.