Wie im vergangenen Jahr scheidet der SV Werder aufgrund einer umstrittenen Elfmeterentscheidung aus dem DFB-Pokal aus. Im Halbfinale 2019 gegen den FC Bayern gab Daniel Siebert wegen eines Missverständnisses mit dem VAR Strafstoß. Die Situation beschäftigt den Referee bis heute.
Entscheiden Sie völlig unabhängig vom Spielverlauf? Oder anders: Hätten Sie auch beim Stand von 5:0 für den FC Bayerns so entschieden?
Ich agiere immer völlig faktisch. Natürlich ist es möglich, dass ich bei einem 5:0 insgesamt relaxter bin, denn in einem spielentscheidenden Moment muss ich sofort in die Situation rein und für klare Verhältnisse sorgen. Es besteht ja die Gefahr, dass sich auf Bremer Seite der Frust breit macht. Da muss ich deeskalierend wirken, ich will ja nicht auch noch eine Rote Karte verteilen. Deswegen habe ich gleich gesagt: „Bleibt ruhig, ihr habt noch zehn Minuten Zeit“.
Haben Sie insgeheim gehofft, dass Werder noch ein Tor macht und sich die Wogen glätten?
Das ist nicht Aufgabe des Schiedsrichters. Für mich war der Elfmeter korrekt. Natürlich war es für Bremen maximal unglücklich gelaufen! Sie müssen bedenken, dass ich in dem Spiel Mats Hummels und Davy Klaassen zuvor Gelb gegeben hatte – in beiden Fällen voll gerechtfertigt – und mich die Spieler ebenfalls angingen, als würde ich daneben liegen. Wenn Sie jeden Protest auf die Goldwaage legen, können Sie diesen Job nicht machen.
Sind Sie völlig immun gegen diese Art von Einflussnahme?
Es ist eine Begleiterscheinung des Fußballs, dass ein Spieler, der einen Fehler gemacht hat, erst einmal versucht, es anders darzustellen. Als ich den Elfmeter gab, wusste ich, den aggressiven Protest kann ich nicht verhindern, auch wenn ich mich jetzt lehrbuchmäßig verhalte. Dafür war der Moment zu spielentscheidend.
Gibt es für solche Momente konkrete Verhaltensregeln?
Ruhe bewahren und den persönlichen Bereich klar abstecken. Es wird ungern gesehen, dass ein Schiedsrichter in die Defensive gerät und den Rückwärtsgang einlegt. Aus meiner Sicht habe ich das gut geregelt. Es war gar nicht vermeidbar, einen Schritt zurück zu treten, weil die Spielertraube gleich im Sprint da war. Aber ich habe Abstand bewahrt und die Spieler den Umständen entsprechend beruhigt.
Gab es danach bis zum Abpfiff noch Kommunikation mit dem Videoschiedsrichter?
Immer wieder, aber keine, die sich auf die Elfmeterentscheidung bezog.
Waren Sie froh, als Sie abpfeifen konnten?
Weil ich überzeugt war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, blieb ich relativ lange auf dem Rasen, um den Verantwortlichen zu erklären, warum ich so entschieden habe. Erst in der Kabine schlug mein Gefühl um.
Können Sie den Moment beschreiben?
Ich komme rein, sehe rechts aus dem Augenwinkel den Bildschirm, auf dem in Zeitlupe gerade die Szene mit dem Foul läuft und erkenne sofort: Oha, das war kein Elfmeter! Ich habe es mir dann noch zwei, drei Mal angesehen und wusste: Mist, jetzt bekomme ich ein Problem.
Was geht einem da durch den Kopf?
Da will man erst einmal im Boden versinken.
Wie ging das weiter?
Als ich das Handy anstellte, trudelten in Nullkommanichts etwa 400 What’s App-Nachrichten ein.
Wer schreibt denn?
Das waren teilweise auch Gruppenchats von Vereinen, auch aus dem Schiedsrichterbereich. Kollegen, die gleich sagten: „Kopf hoch“. Urs Meyer etwa hat mich am nächsten Tag angerufen und mir Mut zugesprochen. Die wussten alle, dass ein Shitstorm auf mich zurollt. Besonders wichtig war für mich aber, dass Florian Kohfeldt und Frank Baumann später zu mir in die Kabine kamen und mir die Gelegenheit gaben, mich zu entschuldigen. Kohfeldt rechne ich es sehr hoch an, dass er schon bei der Pressekonferenz nicht draufgehauen hat, sondern die Niederlage anerkannte. Es war mir wichtig, dass ich zumindest mit den handelnden Personen am Ende im Reinen war. Gegen das Medienurteil konnte ich natürlich nichts machen.
Wie haben Sie nachts geschlafen?
Sehr schlecht. Meine Schlaf-App zeigte an: drei Stunden unruhiger Schlaf, Tiefschlafphase null Prozent. Ich habe mir nachts die wichtigen Szenen der Partie noch einmal angesehen und stellte fest, dass sowohl der Kommentator bei Sky als auch in der ARD sagte, es sei eine harte Entscheidung gewesen, aber keiner sprach von einem klaren Fehler. So hoffte ich, dass die Nachwirkungen nicht ganz so schlimm werden.
Wie lief der Tag nach dem Spiel ab?
Ich fuhr mit dem Zug von Bremen zurück nach Berlin. Kapuzenpulli über und Sonnenbrille auf. Zum Glück hat mich niemand erkannt.