Drogenexperiment? Religiöse Ekstase? Die Aufstiegsfeier von Union Berlin war all das und noch viel mehr. Wer sich die Bilder des Wahnsinns anschaut, merkt schnell: Die Bundesliga kann sich auf den Klub freuen.
Wenn sich die Fans von Union Berlin in den nächsten Jahren noch mal daran erinnern, wo sie eigentlich waren, als ihr Verein zum ersten Mal in die Bundesliga aufgestiegen ist, wird Dirk Zingler die ungewöhnlichste Antwort geben. Bemerkenswerter wird sie noch dadurch, dass er seit 2004 nicht nur Präsident, sondern so etwas wie der erste Fan des Klubs ist. Ohne ihn, daran besteht kein Zweifel, wäre Union Berlin nicht der 56. Verein in der 56-jährigen Geschichte der Bundesliga geworden.
Nur, es war kein normaler Aufstieg durch während der Saison gesammelte Punkte, sondern eine bis zur Unerträglichkeit spannende Zuspitzung eines nervenzerfetzenden Finales. Im zweiten Relegationsspiel gegen den VfB Stuttgart stand es 0:0, als die Tafel des vierten Offiziellen hochging und eine „5„ anzeigte. Fünf grauenhafte Minuten würde Union noch überstehen müssen. Wobei dem Gast aus der Bundesliga nach dem 2:2 im Hinspiel ein dämlicher Treffer reichen würde, ein irgendwie über die Linie trudelnder Ball, um die Klasse zu halten und Unions Aufstieg zu verhindern.
Dem Videobeweis sei Dank
In der ersten Halbzeit war Union von einen wilden Stuttgarter Sturmlauf zerzaust worden, hatte aber mit aller Kraft dagegengehalten und ihn so überstanden. Wobei der Ball einmal sogar in ihrem Tor eingeschlagen war, ein fein ins Tor gezirkelter Freistoß. Doch aus dem Entsetzen der Unioner war bald Jubel geworden, weil sich der Stuttgarter Stürmer Gonzalez einer irrwitzigen Eingebung folgend hinter die Berliner Mauer geschlichen hatte, ins Sichtfeld des Berliner Keepers Gikiewicz – und damit ins Abseits. Die Videobilder ließen keinen Zweifel an dieser Narretei, und in diesem Moment priesen selbst seine größten Gegner in Rot-Weiß den Videobeweis. In der zweiten Halbzeit legte sich der Stuttgarter Sturm, nun hatte auch Union mal Chancen und traf zweimal den Pfosten.
Alles klar! Es sollte einfach nicht sein! Das konnte nur schief gehen! Als dann noch fünf Minuten Nachspielzeit angezeigt wurden, beschloss Dirk Zingler, aufs Klo zu gehen. Einfach runter von der Tribüne, es war schließlich nicht mehr auszuhalten. Als er das Herren-WC verließ, traf er seine Frau, die aus der Damentoilette kam. Dann war das Spiel vorbei und Union aufgestiegen. Sie sanken sich in die Arme.
Wer diesen Dirk Zingler im weiteren Verlauf des Abends sah, erlebte einen völlig aufgelösten Mensch, der etwas davon stammelte, wie „surreal“ es sei, in die Bundesliga aufzusteigen. Das war insofern bemerkenswert, weil der Vereinspräsident sonst ziemlich nüchtern und klar auf die Dinge schaut. Aber es waren da an der Alten Försterei nur Menschen unterwegs, die den Eindruck machten, an einem Massenexperiment mit bewusstseinserweiterenden Drogen teilzunehmen oder gerade eine religiöse Erscheinung zu haben und in Ekstase verfallen zu sein. Sie gaben unkontrollierte Schreie von sich, wollten immer wieder dieselben Lieder singen („Uns’re Mannschaft, unser Stolz, unser Verein!“) oder versanken in stummer Erschöpfung. Sie hatten leere Blicke oder wild flackernde, letztlich waren alle verrückt geworden. Einige rupften Stücke aus dem Rasen, der nun heilig war. Viele weinten.
Vereinsidentität Underdog
Vielleicht drehten alle auch deshalb so durch, weil sie sich fühlten wie eine Expedition, die zwar ihr Ziel erreicht hat, plötzlich aber feststellt, dass sie sich damit ganz schön weit rausgewagt hat. Tief im Bewusstsein aller Unioner verwurzelt ist schließlich die Vorstellung, dass ihr Klub ein Underdog ist. Das war schon zu DDR-Zeiten so und auch nach der Wende, als der Verein aus Köpenick fast unterging. Damals retteten ihn Fans, die Blut spendeten und das Geld dafür dem darbendenKlub gaben. Und wo sonst haben die eigenen Anhänger geholfen, am Stadion mitzubauen? Also mal im Ernst: Gehört so ein Klub wirklich in die Bundesliga, in die Welt der Reichen und Schönen?
Zwei Jahre vor der rauschenden Aufstiegsnacht hatte es schon mal so ausgesehen, als ob sie es in die Eliteklasse schaffen würden. Zwei Monate vor Saisonende war die Mannschaft sogar an der Tabellenspitze, und in der Kurve wurde ein Transparent hochgehalten: „Scheiße, wir steigen auf.“ Und scheiße, jetzt war es also wirklich so weit. Vermutlich wird der Unglaube über diesen Aufstieg erst weichen, wenn der Spielplan der Bundesliga veröffentlicht wird. Dann werden alle Unioner sehen, dass die verrückte Expedition sie wirklich in die Bundesliga geführt hat. Nach Bremen und, verdammt, zum FC Bayern! Auf den Fahrten dahin werden sie einen ihrer beliebtesten Gesänge anstimmen: „Dem Morgengrauen entgegen, zieh’n wir gegen den Wind. Wir werden alles zerlegen, bis wir Deutscher Meister sind.“ Und jetzt können sie es ja wirklich werden.