Jeden Monat erklärt Tommi Schmitt an dieser Stelle, was ihm im Fußball noch wichtig ist. Diesmal: Ein Champions-League-Abend gegen Real Madrid, Tönnies‘ Schweine und Hass auf den personalisierten Jubel.
Das war ja klar, Herr Schmitt: Früher war also mal wieder alles besser?
Ich verabscheue romantisierende Vergangenheitsverklärer. Aber hier muss ich sagen: Ja, früher war das, was ich am Fußball mag, wesentlich besser. Jetzt noch diese geleakten Pläne zur mutmaßlichen europäischen Superliga. Wir haben uns doch gerade erst nicht an die UEFA Nations League gewöhnt. Wie viele Titel soll es denn noch geben? Mittlerweile hat doch jeder beim Abendbrot ein Familienmitglied am Tisch sitzen, das schon mal irgendeinen UEFA-Wettbewerb gewonnen hat. Es gibt einfach zu viel davon. Jetzt mal ohne Nachgucken: Wer hat denn vor vier Jahren die Champions League gewonnen? Oder wer stand 2018 im WM-Halbfinale? Oder wer gewann vor fünf Jahren die Europa League? Gut, wahrscheinlich der verdammte FC Sevilla, der macht mir jedes Mal dieses Gedankenexperiment kaputt, aber trotzdem! Es ist alles so vergänglich und, ja, egal geworden. Das ist das Netflix-Problem. Es gibt zu viel, also mache ich lieber aus. Das Fußballgeschäft muss aufpassen. Es erinnert derzeit an neue Folgen Scrubs oder Simpsons. Man erkennt die Figuren, aber das Herz fehlt.
Diese Woche warnte das Dortmunder Fanzine „Schwatzgelb.de”, dass es nie wieder so sein werden könnte wie früher. Die Fans, die aktuell fernbleiben müssen, würden auch nach dem Ende der Pandemie nicht allesamt zurückkehren. Haben Sie sich schon vom Fußball abgewendet?
Vor einem halben Jahr hätte ich mir niemals vorstellen können, das zu sagen: Aber ja, meine Leidenschaft schwindet. Und das, obwohl mein Verein, Borussia Mönchengladbach, eigentlich total Spaß machen sollte. Und er macht ja auch noch Spaß, das Feuer glimmt noch, aber richtig heiß bin ich an Spieltagen nicht mehr. Generell kommt es nun ganz darauf an, wie lange „das“ jetzt dauert. Wenn wir die ganz gewohnte Normalität erst wieder in 2 – 4 Jahren herstellen, halte ich es durchaus für möglich, dass die Bundesliga ein nachhaltiges Identifikations-Problem bekommt – ähnlich wie die Nationalmannschaft jetzt schon. Fankurven speisen sich auch durch Nachwuchs und die wachsen nicht auf mit den vollen Rängen, den Bengalos, den vor Freude explodieren Stadien und Gesängen. Das Rebellische am Fußball entfällt in Gänze. Sie sehen leere Ränge hochmoderner Multifunktionsarenen, die irgendwo auf dem Land stehen. Da denkt doch kein 14-Jähriger und keine 14-Jährige: „Da muss ich dabei sein!“ Dann schauen die sich eher Twitch an oder schießen die Tore auf der Playstation selbst. Finde ich absolut nachvollziehbar.
„Gegen Inter Mailand habe ich erst in der fünften Minute eingeschaltet, weil ich zunächst noch eine Bolognese fertig kochen wollte. Vor einem Jahr hätte ich für dieses Spiel meine Eltern verkauft und wäre zwei Wochen lang in Mailand gewesen.“
Düstere Aussicht.
Es kann ja auch anders kommen. Aber es verschiebt sich dieser Tage eben einiges. Interessant finde ich auch, wie die 2. und 3. Liga derzeit so gar keine Beachtung finden. Aktuell gibt es gefühlt nur Menschen, die sich noch irgendwie samt Kloß im Hals die Bundesligaspiele reinquälen und auf der anderen Seite Menschen, die schon längst abgewunken haben und sich nun auf den Kreisligaplätzen mit geriffelten Pommes tummeln und da ihr Fan-Glück suchen. Aber dazwischen gibt es eben noch sieben Ligen. Die Ligen der außer Acht gelassenen Gentlemen. Das macht mir auch große Sorgen.
Union Berlin – der Kultklub aus der Hauptstadt – hat bis zuletzt alles versucht, um die Fans wieder ins Stadion zu lassen.
Union lebt da auch von seinem Sympathie-Kredit. Man stelle sich vor, ein anderer Verein würde da so vorpreschen, denen würden wir das wahrscheinlich nicht so durchgehen lassen. Aber die Deutschen lieben alles, vor das man das Wort „Kult“ setzen kann. Kult-Klub eben. Aber ich kann das irgendwie auch verstehen, auch sportlich. Union braucht seine Fans, die sind da wirklich Teil des Teams und des Erfolgs. Ähnlich wie bei Arminia Bielefeld, das bricht mir das Herz. Arminia steigt sensationell auf und spielt jetzt nahezu unter ferner liefen Bundesliga. Und sollte der DSC wieder absteigen, hat das was von einem unscheinbaren Typen auf einer Party, den man am nächsten Tag entgeistert fragt: „Ach, du warst auch da?!“ Einfach schrecklich. Die Alm ist mein absolutes Lieblingsstadion in Deutschland. Diesen originalen Tempel, der mitten in der Stadt steht, Wochenende für Wochenende in seiner blauen Traurigkeit zu sehen, zerreißt mir das Herz. Ich lege mich fest: Mit Fans würde Bielefeld definitiv nicht absteigen.
Zurück zu Union: Max Kruse geht unter der Woche Kartenspielen und steht am Wochenende wieder auf dem Platz. Vor einem halben Jahr wäre das noch undenkbar gewesen.
Ja, er hofft noch mehr auf ein Full House als sein Präsident. Aber ich finde diese Leidenschaft irgendwie sympathisch. Und solange er nach den Turnieren nicht im Hotelbett seinen Big Blind filmt, sind sie bei den Eisernen vermutlich sehr glücklich mit ihm.
Blicken wir in den Westen der Hauptstadt. Friedrich Merz hat gesagt, dass Hertha BSC das Vorbild für die CDU sein muss. Wie schlimm ist es wirklich um den Big City Club bestellt?
Ich glaube, Hertha nimmt derzeit jeden Fan mit Kusshand. Auf der einen Seite ein steinreicher Machttyp, der eigentlich wenig von der Materie versteht und auf der anderen Seite Lars Windhorst. Das wäre doch ein tolles Duo auf der Haupttribüne.
Unter der Woche spielte Borussia Mönchengladbach, Ihr Verein, in der Champions League gegen Real Madrid. Keine Gefühle?
Ganz schwieriges Thema. Natürlich ist es unglaublich für mich, meine Mannschaft in einem Pflichtspiel gegen Ramos, Kroos, Benzema und Co. auflaufen zu sehen. Ein geiles Spiel war das. Trotzdem ist es Fußball light. Wenn gegen Real um 21 Uhr eine Stimmmung herrscht wie im Real um 21 Uhr, dann fällt es sehr schwer, für dieses Spiel zu brennen. Gegen Inter Mailand habe ich erst in der fünften Minute eingeschaltet, weil ich zunächst noch eine Bolognese fertig kochen wollte. Vor einem Jahr hätte ich für dieses Spiel meine Eltern verkauft und wäre zwei Wochen lang in Mailand gewesen. Es ist so absurd, logisch und irgendwie lustig, wie sehr der Fußball von den Fans abhängig ist. Die Fans stehen über allem. Erst dann kommt das, was auf dem Rasen passiert. Das bewahrheitet sich jetzt. Ich meine das gar nicht schnippisch, positiv oder negativ. Es ist lediglich eine Bestandsaufnahme. Ohne Fans kein Herz. Was ist so ein Champions-League-Auswärtsspiel wert, wenn man unter den Fernsehtürmen des San Siro, die man noch von Simulationen aus FIFA 98 kennt, nur leere Ränge sieht? Was ist so ein Auswärtsspiel wert, wenn man am nächsten Tag nicht halbbetrunken in einem Air BnB aufwacht und seine Freunde fragt, wie das Spiel ausgegangen ist? Der Pass von Florian Neuhaus vor dem 2:1 von Jonas Hofmann hat für viel entschädigt, klar. (Atmet aus.) Normal ist das alles nicht.
Sie spüren also kaum noch was?
Das will ich nicht sagen. Ich bin total stolz auf diese Mannschaft. Wie sie sich mag, wie sie den Trainer liebt, wie sie abliefert und ihren Job macht. Ich würde hier auch wirklich gerne optimistischer und fröhlicher antworten. Aber ich habe mich für die Wahrheit entschieden. Und aktuell ist es ein wenig, wie dem fünfjährigen Sohn zuzuschauen, der schräg Geige vorspielt. Man ist stolz, man freut sich auch, dass er da oben auf der Bühne steht, aber eigentlich ist man nur froh, wenn alles bald vorbei ist. Ohne Fans ist selbst Fußball nur irgendein Sport. Ich weiß, ich soll hier Lust und Spaß verbreiten. Aber ich gucke Fußball derzeit einfach nur aus traditionellen Gründen. Ähnlich wie sonntags den Tatort, bei dem ich mir nach 15 Minuten auch immer denke: Was für eine Scheiße.