Rolf Schafstall rettete reihenweise Bundesligisten vor dem Abstieg. Mehr noch als die Hitze im Tabellenkeller aber liebte der passionierte Feuerwehrmann seine Gattin Hildegard. Heute wäre er 85 Jahre alt geworden. Der harte Hund mit dem weichen Herzen im großen Karriereinterview.
Dieses Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #143. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich. Am 30.01.2018 ist Rolf Schafstall im Alter von 80 Jahren verstorben.
Rolf Schafstall, der „Kicker“ nannte Sie einst den „Red Adair der Bundesliga“. Ihre Teams spielten fast immer gegen den Abstieg.
Ich stand mein ganzes Trainerleben unter Strom. Das war Stress pur.
Bei welchem Klub war es am härtesten?
Die gesamte Zeit war hart, aber ich habe den Stress sehr genossen. Ich wurde im Krieg groß. Bei Bombenangriffen hofften wir im Keller, dass es nicht einschlägt. Jede Nacht Sirenen. Wir sind drei Mal evakuiert worden. Ich war der Zweitjüngste von acht Geschwistern aus Hamborn-Neumühlen. Meine Eltern haben uns mit Müh und Not ernähren können. Das war eine harte Zeit – nicht der Profifußball.
Sie haben Grubenelektriker gelernt.
Meine Eltern hatten kein Geld, um eine höhere Schulausbildung zu finanzieren. Als die Volksschule vorbei war, sagte mein Vater: »Junge, du wirst Elektriker.«
Aber wie vertrug sich die Arbeit in der Zeche mit dem Job als Fußballer bei Hamborn 07?
Ich war nur drei Monate unten. Dann ging ich zum Arzt und ließ mich krankschreiben. Herzklabaster, Ohrensausen, weiß der Himmel, was der da geschrieben hat. Hauptsache, ich kam aus dem Loch raus.
„Meine Frau und ich, das war Liebe auf den ersten Blick“
Sie waren offenbar nicht besonders gern Handwerker.
Es war unbefriedigend. Wegen des Fußballs hatte ich keine Zeit, meinen Meisterbrief zu machen. Ich wusste schon früh, dass ich alles im Fußball geben muss, um aus dieser Eintönigkeit rauszukommen.
Nach über 300 Spielen für Hamborn wechselten Sie 1963 zum SSV Reutlingen nach Schwaben.
Ein Sechser im Lotto für mich.
Aber Sie sind doch im Ruhrgebiet verwurzelt.
Aber meine Frau kommt aus Pforzheim. Ihr konnte ich das Leben neben der Thyssen-Hütte nicht länger zumuten.
Wie kam der erdige Junge aus dem Pott mit den lieblichen Schwaben zurecht?
Es dauerte einige Zeit, bis ich alles verstand, aber es war eine glückliche Zeit.
Sie hatten auch ein Angebot von 1860 München, einem Mitglied der neugegründeten Bundesliga.
Stimmt, aber das wäre Bayern gewesen, und da meine Frau zurück in ihre Heimat wollte, fand ich Reutlingen wunderbar. Als wir 1965 in der Aufstiegsrunde knapp an Borussia Mönchengladbach scheiterten, machte mir auch Hennes Weisweiler ein Angebot. Habe ich auch meiner Frau zuliebe ausgeschlagen.
In Ihrer aktiven Laufbahn haben Sie sich also für die Liebe – und gegen die Erstligalaufbahn entschieden.
Liebe ist doch etwas Schönes. Meine Frau und ich, das war Liebe auf den ersten Blick. Und jetzt sind wir schon 55 Jahre verheiratet. (Das Gespräch findet im September 2013 statt, Anm.d.Red.)
„Wenn ein Spieler die direkte Ansprache nicht versteht, muss man deutlicher werden“
Dabei steht im Personenarchiv „Munzinger“ über Sie: „Schafstall gilt als sehr harter Arbeiter …
…da würde ich zustimmen…
… und knochenharter Hund.“
Ach, das wird immer übertrieben. In der Sache kann ich bestimmt sehr hart sein, aber ich habe auch eine weiche Seite.
Und wie sieht Ihre weiche Seite aus?
Wenn es in Bochum mal besonders schlecht lief, habe ich morgens meine Frau gebeten, Kuchen zu backen. Beim Training brüllte ich die Spieler dann noch an: „Wenn ich das schon wieder sehe. Unerträglich. Kommt, packt die Bälle zusammen. Wir machen Schluss!“ Und als die Spieler bedröppelt in der Kabine saßen, lud ich die ganze Mannschaft zum Kaffee bei uns ein. Die fielen aus allen Wolken.
Es heißt weiter: „Schafstall ist bei der Wahl seiner Worte und im Ton seiner Anweisungen nicht zimperlich.“
Ich bin immer geradeaus. Einen Spieler erreicht man aber nicht nur im Kommandoton.
Mitunter aber doch.
Naja, wenn ein Spieler die direkte Ansprache nicht versteht, muss man manchmal auch deutlicher werden.
Stefan Kuntz sagt, Sie hätten keine 100 Prozent von Spielern gefordert, sondern einiges darüber. „Hart, aber herzlich“ seien Sie gewesen.
Natürlich haben wir hart gearbeitet. Wenn Sie als Trainer – Anfang der achtziger Jahre – mit Spielern, die teilweise aus der Amateurliga kommen, in der Bundesliga die Klasse halten wollen, schaffen sie das nur über eine erstklassige Kondition. Und nach den sechs Wochen Vorbereitung waren die Jungs einerseits froh, dass es vorbei war, und andererseits, dass sie so fit waren.
1973 mussten Sie Ihre aktive Laufbahn verletzungsbedingt beenden. War immer klar, dass Sie danach Trainer werden?
Als meine Karriere zu Ende ging, wusste ich erst nicht, wie es weitergehen sollte. Dann las ich in der Zeitung, dass der TuS Ergenzingen auf der Schwäbischen Alb einen Trainer sucht.
Und Sie heuerten in der Provinz an.
Es war für mich ein unbeschreibliches Gefühl, vor jungen Spielern über Fußball zu sprechen, und zu sehen, wie sie mir andächtig zuhörten.
Woher hatten Sie die Gabe, Spieler richtig anzusprechen?
Auch wenn es eitel klingt, aber ich konnte mir selbst immer gut zuhören. Wissen Sie, wie es ist, wenn man davon begeistert ist, was man sagt? Ein tolles Erlebnis. Ich glaube, das ist der Schlüssel dazu, dass einem auch andere zuhören.
Nach der Trainerausbildung gingen Sie als Co-Trainer zum MSV Duisburg. Sie gewannen mit der A‑Jugend eine Deutsche Meisterschaft und übernahmen 1976, nach der Entlassung von Willibert Kremer, die erste Mannschaft.
Mein erster Job in der Bundesliga war gleich Abstiegskampf. Ich lernte die Arbeit im Tabellenkeller gewissermaßen von der Pike auf.
„Du musst die Ärmel hochkrempeln und ganz tief in den Geldsack packen“
Ihre früheste Erinnerung an die Bundesliga?
Wir spielten mit dem MSV in Frankfurt. Ich stand auf der Aschenbahn, als Eintracht-Coach Gyula Lorant auf mich zukam. Ein Riesenkerl. „Habe gehört, hast Vertrag unterschrieben“, radebrechte er, „wie macht man das?“ Ich: „Tja, wie wohl? Man liest das Papier durch und schreibt seinen Namen drunter.“ Da brüllte mich Lorant an: „Falsch“, und fängt an, sich den rechten Ärmel hochzukrempeln. „Du musst Ärmel hochkrempeln, ganz tief in den Geldsack packen und alles rausholen. So unterschreibt man Vertrag.“
In der Saison 1978/79 führten Sie den MSV Duisburg bis ins Halbfinale des UEFA-Cups. Unvergesslich. In der zweiten Runde mussten wir bei Carl Zeiss Jena mit dem Trainer Hans Meyer antreten. Als wir dort ankamen, erwartete uns eine Wand aus Schweigenden am Trainingsplatz. Kein Autogrammwunsch, keine Frage, nichts. Ich bin dann mit einer Delegation ins Hotel gefahren. Vier Leute und ich in einem Trabi. Keiner sprach ein Wort. Im Hotel stand hinter jeder Säule ein Typ in Kunstlederjacke. Mann, ging mir das auf den Sack.
Der MSV hatte damals eine illustre Truppe: Bernard Dietz, Rudi Seeliger, Kurt Jara, Ronnie Worm und Kees Bregman.
Was wohl aus Bregman geworden ist?
Friseur in Utrecht.
Das passt zu Kees, ein witziger Typ. Vor seinem letzten Spiel für den MSV kam er und sagte: „Trainer, ich muss heute was Besonderes machen.“ Ich sagte: „Mach ein ordentliches Spiel, das werden die Zuschauer honorieren.“ Aber dem armen Kerl gelang gar nichts. Als er zehn Minuten vor Schluss den Ball bekam, nahm er ihn mit der Hand auf, bedankte sich per Handschlag beim Schiedsrichter, drückte die Pille einem Rollstuhlfahrer auf der Aschenbahn in die Hand und ging winkend in die Katakomben.
„Ente, wir sind hier im Ruhrgebiet, wir brauchen keine Pelzmäntel“
Wie kamen Sie mit solchen Witzbolden zurecht? Bei Rot-Weiss Essen hatten Sie auch mit Willi Lippens zu tun.
Gut. Ente kam gerade aus den USA zurück, der hatte nichts verlernt. Er war ein Schlitzohr geblieben.
Inwiefern?
Ich sah schon an seinem Blick, wenn er etwas im Schilde führte. Laufen mochte er nicht. Dienstags stand bei uns Konditionstraining an. Da kam er zu mir und sagte: „Trainer, wir müssen mal wieder den Europacup der Pokalsieger ausspielen.“ Gut, dachte ich, machen wir einen Kompromiss. Statt Konditionstraining, ein Turnier auf Kleinfeld. Am nächsten Dienstag aber kommt der Frechdachs wieder: „Trainer, da gibt‘s auch den Europacup der Landesmeister …“
Ihre Antwort?„Ente, den spielen wir dieses Jahr dann aber erst an Weihnachten aus.“
Und? Hat er sich dran erinnert?
Indirekt. Kurz vor Weihnachten klopft es an meiner Tür. Ente mit einem kleinen Koffer, aus dem er einen Pelzmantel holt. „Trainer, es geht auf Weihnachten. Sie haben doch ’ne blonde Frau, der Pelz würde ihr gut stehen.“ Irgendeiner hatte ihm einen Berg Pelzmäntel angedreht, damit er die im Verein an den Mann bringt. Ich schmiss ihn mit den Worten raus: „Ente, wir sind hier im Ruhrgebiet, wir brauchen keine Pelzmäntel.“
Mit welchem Spielertypus kamen Sie am besten aus?
Als Trainer müssen Sie mit allen auskommen, als Spieler nur mit einem.
Schön gesagt, aber mit allen hat es ja nicht geklappt.
Doch. Oder auf wen spielen Sie an?
Oliver Bierhoff, Ihr Spieler bei Bayer Uerdingen, nannte Sie mal den „schlechtesten Trainer, den ich je hatte“.
Logisch, weil er bei mir nicht gespielt hat. Bierhoff war ein junger Profi, der recht kopfballstark war. Ansonsten konnte er fußballerisch nicht auf dem Niveau meiner Angreifer Marcel Witeczek oder Stefan Kuntz mithalten.
Sie haben sechs Vereine als Feuerwehrmann im Tabellenkeller übernommen und vor dem Abstieg bewahrt. Verraten Sie uns Ihr Rezept?
Das geht nur, indem man durch Gespräche ständig die Hoffnung schürt, dass jedes Spiel eine neue Chance eröffnet, sich aus der Situation zu befreien. Jeder Spieler muss schnallen, dass es nur klappt, wenn jeder mitzieht.
Und wie kriegt man das in die Köpfe?
Mit einer unmissverständlichen Ansprache. Und wenn einer nicht mitzieht, muss ein Trainer auch Härte zeigen.
„Jetzt geh auf die Geschäftsstelle und lös deinen Vertrag auf“
Wo war das der Fall?
Als ich im Winter 1987 nach Uerdingen kam, schloss ich meine erste Ansprache mit den Worten: „Wer meint, den Anforderungen in puncto Disziplin, Trainingsfleiß und Einsatz nicht folgen zu können, soll es bitte jetzt sagen.“ Das erste Spiel in Hamburg verloren wir. Franz Raschid und Oliver Bierhoff saßen auf der Bank. Als ich am nächsten Morgen in die Kabine kam, hatte ich alle Antennen ausgefahren. In solchen Momenten muss ein Trainer sehr wachsam sein, um jede Regung mitzukriegen. Raschid und Bierhoff unterhielten sich angeregt darüber, dass sie nicht gespielt hatten. Ein Routinier – und ein sehr junger Spieler. Der Junge konnte nichts dafür, aber Raschid habe ich nach dem Training in mein Zimmer bestellt.
Zum Rapport?
In solchen Situationen konnte ich knallhart sein. Ich fragte, ob er mir denn nicht zugehört habe und schloss mit den Worten: „Jetzt geh auf die Geschäftsstelle und lös deinen Vertrag auf.“
Sie ließen nicht mehr mit sich reden?
Nein. Die Mannschaft hatte meine Ansprache gehört – und auch mitbekommen, dass Raschid und Bierhoff sich nicht an die Anordnungen gehalten hatten. Wenn ich das durchgehen lasse, mache ich mich unglaubwürdig. Spieler müssen das Gefühl haben, dass sie sich auf Ansagen verlassen können. Ab da war Ruhe in der Mannschaft – und am Ende der Saison landeten wir auf Platz sechs.
Ist es einem Spieler je gelungen, Sie mit Worten zu verletzen?
Nö. Dazu kamen die gar nicht, wenn sie bei mir trainierten.
„Was macht ein Mann, wenn er allein ist? Er geht in die Kneipe“
Ein düsteres Kapitel Ihrer Karriere war das Engagement bei Dynamo Dresden im Jahr 1999. In einem Interview im „Spiegel“ sagten Sie über die Atmosphäre bei dem Drittligateam: „In der Kabine steht keiner auf, keiner hört zu. Die sind nicht zur Arbeit erzogen, kein Anstand.“ Daraufhin wurden Sie nach nur 57 Tagen entlassen. Später haben Sie sich für Ihre Aussagen entschuldigt. Was war passiert?
Ich habe mich vom Vorstand dort sehr allein gelassen gefühlt. Es war die deprimierendste Zeit als Trainer. Ich war aufgrund früherer Erfahrungen im Osten – ich hatte vorher schon bei Stahl Brandenburg gearbeitet – zugegebenermaßen überkritisch. Aber die Spieler machten es mir durch ihr Verhalten auch nicht gerade einfacher.
Vor Ihrer Zeit in Dresden hatten Sie als Coach eine fünfjährige Pause eingelegt.
Die Achtziger und frühen Neunziger waren sehr aufreibend, ich hatte vorübergehend die Lust verloren. Wenn ich die Pause nicht eingelegt hätte, wäre ich heute vielleicht nicht mehr da. Ich hatte Angebote aus der Türkei, aber ich merkte, dass ich durchatmen muss. Manche Angebote habe ich zu schnell angenommen, ohne ausreichend drüber nachzudenken.
Woran lag das?
Ich tat mich stets schwer damit, zu Hause rumzusitzen. Ich brauchte das Gefühl, auf dem Trainingsplatz zu stehen.
Wie extrem war der jahrelange Stress im Tabellenkeller? Udo Lattek
hat gesagt, er brauchte ab und an sein Kölsch als Ventil.
Der Stress war immens, aber ein Bier habe ich mir auch unabhängig davon genehmigt. Ich konnte mit der Hektik recht gut umgehen, mir gefiel die Schwere der Aufgabe regelrecht. Zu einem Verein zu wechseln, der unten drin stand, diesen Moment habe ich fast genossen. Jedenfalls hat sich bei mir nie ein Burn-out breitmacht.
Nie Angst vor einem Herzinfarkt gehabt?
Gyula Lorant ist auf der Trainerbank gestorben. Es kommt immer darauf an, wie man mit Stress umgeht. Bei mir war meine Frau der Blitzableiter. Wenn ich abends im Essen rumstocherte und mich über die Mannschaft beschwerte, hat sie sich das immer ruhig angehört.
Sie wurden mehrfach in Ihrer Laufbahn mit Alkohol am Steuer erwischt. Beim VfL Osnabrück führte 1991 dieses Delikt sogar zur Entlassung.
Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich wegen des Jobs immer wieder allein unterwegs war – ohne meine Frau. Und was macht ein Mann, wenn er allein ist? Er geht auch mal in die Kneipe und trinkt ein Bier. Und wenn ich dort ins Gespräch kam, bin ich auch mal klebengeblieben und habe ein zweites getrunken. Am Ende habe ich mich überschätzt und bin, anstatt ein Taxi zu nehmen, in mein Auto gestiegen. Keine gute Zeit. Diese Dinge möchte ich am liebsten vergessen.
Ihre Frau hat mal gesagt: „Wenn Rolf den Fußball nicht mehr hat, dreht er durch“. Sie wirken ganz friedlich.
Ich war ein Verrückter, ein Besessener. Aber die Zeit ist vorbei. Als Kind hatte ich nichts zu beißen, aber der Fußball hat mir ein wunderbares Leben ermöglicht.
Und wir halten fest: Der größte Erfolg im Leben von Rolf Schafstall ist die Beziehung zu seiner Frau?
Auf jeden Fall. Das ist das Größte. Die hat so viele Entbehrungen für mich auf sich genommen. Auch wenn es kitschig klingt: Die sechzig Jahre mit ihr sind mehr wert als jede Meisterschaft.