Saisonendspurt, das bedeutet auch: zittern, bangen, trauern. Unsere Autoren erinnern sich an verpasste Meisterschaften, verpatzte Aufstiege und die Anfänge vom HSV-Ende. Taschentücher raus und ab dafür.
VfB Stuttgart – Energie Cottbus, Saison 2006/2007 (34. Spieltag)
Ausgesprochene Wörter bleiben für immer. Und ein guter Freund und sein Vater sind, bei aller Liebe, ein kleines bisschen verrückt. Symptome: Schwitzende Hände, starrer Blick, sehr verliebt. Krankheitsbild: FC Bayern München. Nun gut, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Doch zu Schulzeiten ergab sich folgende Zwickmühlensituation: Mein Freund und sein Vater lebten vielleicht im einzigen Haushalt des Umkreises, der ein Pay-TV-Abonnement abgeschlossen hatte. Wer also am Wochenende etwas Live-Fußball sehen wollte, musste sich vorsichtig heranwagen, andeuten, drum flehen, dass er Samstags eingeladen wurde. Das Problem: Spielte der FC Bayern, schaltete der Vater stur auf Einzelspieloption. Revierderby? Abstiegskampf? Ein 7:6? Völlig egal, sollte der FC Bayern – zumeist längst Meister – zeitgleich noch gegen Alemannia Aachen spielen.
Ich erinnere mich während dieser Zeit an nur einen einzigen Sonderfall. Saison 2006/2007, letzter Spieltag. Die Bayern hatten eine verhältnismäßig schwache Saison gespielt, Felix Magath im Februar entlassen und standen vor dem 34. Spieltag zwischen Gut und Böse auf dem vierten Platz. Eine Ausnahmesaison. Eine Ausnahme im Haushalt meines bayernliebenden Freundes. Er lud an diesem Nachmittag den gesamten Freundeskreis ein. Sein Vater setzte sich in den braunen Schwingsessel, wählte die Konferenz und eine Horde Kinder, auf den Sofas aneinandergereiht, auf dem Flokati hockend, verfolgten das Fernduell zwischen Stuttgart und Schalke 04.
„Sag mal, weinst du?“
Königsblau hatte eine Woche zuvor die Tabellenführung mit einer Niederlage gegen – ausgerechnet – Dortmund abgegeben, weil Stuttgart zeitgleich in Bochum das Spiel nach einer Einwechslung von Mario Gomez gedreht hatte. Trotzdem: Alles sehr spannend. Ganz besonders, als Stuttgart nach 19 Minuten gegen Cottbus in Rückstand geriet und Schalke zu diesem Zeitpunkt schon zwei Tore gegen Bielefeld geschossen hatte. In dem Wohnzimmer, das sonst nur bayrische Gleichgültigkeit kannte, kam Spannung auf. Dann traf Stuttgarts Thomas Hitzlsperger per Volleyschuss. Ein fantastisches Tor. Wir jauchzten, jubelten, glückselig und überrascht vom Umstand dieses Moments. In der zweiten Halbzeit traf Sami Khedira zum Sieg. Stuttgart war Meister.
Und ich schaute in die Gesichter meiner Freunde, alle blickten noch gebannt auf den Fernseher, was für ein wunderbarer Fußballnachmittag. Was für ein Finale. Und dann sah ich ihn neben mir: Stumme Tränen auf den Wangen, ein verzweifelter Augenblick. Wir hatten einen Schalke-Fan unter uns. Er hatte die gesamte Zeit schweigend die Spiele verfolgt, wohl die Aufmerksamkeit nicht noch besonders auf sich ziehen wollen. „Sag mal“, sagte ich in die Stille hinein, „sag mal, weinst du?“ Was für eine dumme Frage. Ein Moment völliger Empathielosigkeit. Als hätte ich mir nicht die Mühe machen wollen, nachzuvollziehen, was für ein grauenhafter Nachmittag das für ihn gewesen sein musste. Ich konnte es doch sehen! Doch erst, als ich die Wörter gesprochen hatte, wurde es mir selbst bewusst. Diese Frage, sie tut mir bis heute leid. Und vor jedem Finale seitdem schwöre ich mir, bloß die Schnauze zu halten.
Tobias Ahrens
Braunschweig – Mainz, Saison 2002/03 (34. Spieltag)
Wie gewöhnlich schnitt ich am Samstagmorgen den Spielplan sowie die Tabelle der 2. Bundesliga aus der Zeitung aus, um sie an meinen Schrank zu hängen und den Überblick nicht zu verlieren. Mit meinen sechs Jahren war ich nicht der beste Mathematiker, doch ich wusste, dass meine Mainzer an diesem Wochenende Historisches würden schaffen können. Also dann, 19:15 Uhr, DSF, Hattrick. Premiere lief damals nicht bei uns, mein Erspartes reichte im Monat für ein oder zwei Packungen Panini-Sticker und meine Mutter, nun ja, war eher weniger fußballbegeistert. Zwar war ich in der Lage, den Teletext der ARD zu bedienen, doch das hätte schließlich die Spannung am Abend genommen. Gegen 21:00 Uhr, also gute vier Stunden nach Abpfiff des Spiels, läutete DSF die Schlussphase für die Aufstiegskonferenz ein.
Mainz führte mit 4:0 in Braunschweig, vier Mal netzte Benjamin „Fußballgott“ Auer. Aber Jürgen Klopp, der mich eineinhalb Jahre zuvor mit einem Autogramm am Bruchweg endgültig zum 05er gemacht hatte, war nicht so entspannt wie ich. Braunschweig traf, 1:4 nach 80 Minuten. Im Parallelspiel um den dritten Platz spielten die Frankfurter zuhause gegen Reutlingen.
Flanke, Kopfball Schur, 6:3
Als die Gäste zwischenzeitlich das 3:3 machten, schien der Aufstieg entschieden, im nächsten Jahr würden die Bayern an den Bruchweg kommen. Die Mainzer hatten zu diesem Zeitpunkt zwei Punkte mehr auf dem Konto und ein um zwei Tore besseres Torverhältnis. Frankfurt benötigte in zehn Minuten immerhin noch Treffer. Eigentlich unmöglich.
Eigentlich. 4:3, 5:3. Wäre das Wort „Fuck“ damals schon in meinem Wortschatz vorhanden gewesen, es wäre nicht nur einmal gefallen. Dann blendeten sie wieder die Mainzer ein. „Jürgen Klopp sagt seinen Jungs: Macht noch einen rein, einfach nur zur Sicherheit. Bitte Jungs!“, kommentierte Jürgen Schmitz. Und dann Abpfiff. Irgendwie ahnte ich bereits, dass das alles kein gutes Ende nehmen würde, dabei war alles schon seit Stunden entschieden. Spätestens als Schmitz folgende Vermutung anstellte, stieg mein Blutdruck: „Aber wer weiß, vielleicht ist der Fußballgott heute im Waldstadion“. Es dauerte nicht lange. Aber um Stiche im Herzen zu spüren braucht es oft eben nur Sekunden. Flanke, Kopfball Schur, 6:3. Spätestens als dann die Tränen der Spieler, der Fans, der Verantwortlichen zu sehen waren, brach in meinem Leben zum ersten Mal das Herz in mindestens zwei Teile.
Pascal Gillen