Heute ist die „Süd“ im Westfalenstadion die vermutlich berühmteste Stehtribüne der Welt. Bis dahin war es ein langer Weg voller Aufs und Abs. Zu Ende ist er noch lange nicht.
Das Seltsame an der Süd ist, dass sie nicht im Norden liegt. Das ist nämlich die Seite des Stadions, die zur Innenstadt weist. Dort ist massig Platz, dort steht inzwischen die „Fanwelt“ des BVB. Im Norden sind auch all die Orte, an denen sich die Heimfans gerne eintrinken, etwa der Biergarten im Stadion Rote Erde oder die vor knapp zehn Jahren eröffnete Kneipe Strobels. Und natürlich die mobilen Tränken vor der Reithalle, wo man Fan-Ikone Peter „Erbse“ Erdmann wieder treffen konnte, nachdem ihn der Dortmunder Journalist Gregor Schnittker 2012 aus dem inneren und äußeren Exil errettet hatte, dazu später mehr.
Aber nein, der harte Kern der BVB-Fans steht auf der Tribüne im Süden – und er tut das schon seit der Eröffnung des Stadions am 2. April 1974. Doch niemand weiß, warum. Im alten Stadion, das gleich nebenan liegt und genauso ausgerichtet ist, tummelten sich die meisten der besonders engagierten Anhänger in der Nordwestkurve, unter den Pappeln. Doch kaum war das Westfalenstadion fertig, marschierten sie wie von einer höheren Macht dirigiert geschlossen in den Süden. Hat das mit den Schalkern zu tun? Deren eigene WM-Spielstätte wurde acht Monate vor dem Westfalenstadion eröffnet, und in Gelsenkirchen stellten sich die Heimfans in die Nordkurve. Es gibt die Theorie, dass die Borussen beschlossen, die entgegengesetzte Himmelsrichtung zu wählen, um ein Zeichen zu setzen.
Was auch immer die Schwarz-Gelben in den Süden trieb, seither gehört zum Initiationsritus eines Dortmunder Kindes der Gang über den eher schmalen Weg entlang des Freibades, das hinter der Südtribüne liegt. Früher an der Hand des Vaters oder älteren Bruders, heute auch der Mutter oder Schwester. Bis zum Fußballboom der Neunziger hielt das Kind in der anderen Hand etwas sehr Wichtiges. Es konnte ein Klappstuhl sein, eine faltbare Kiste oder ein kleiner Tritt aus Holz. Jedenfalls musste das Kind erhöht stehen, um etwas sehen zu können, während die kleinen Hände den kalten Stahl des Wellenbrechers umklammerten. Im Archiv des Vereinsmuseums (auch das ist übrigens im Norden!) lagert die geniale Konstruktion eines Vaters aus den Siebzigern: ein geschmiedeter Kindersitz, der einfach über einen solchen Wellenbrecher gehängt wurde. Darf man solche Hilfsmittel heute überhaupt noch mit ins Stadion nehmen?
Wie die Fanwerdung des Dortmunder Kindes dann weiterging, hing stark davon ab, in welchem Jahrzehnt es zum ersten Mal von der Südtribüne auf den faszinierenden, wunderbar grünen Rasen blickte. (Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ende der Siebziger erblickten fiebrig leuchtende Kinderaugen meistens eine braune Schlammwüste, denn der Rasen des Westfalenstadions war lange eine totale Katastrophe.) Obwohl die Veteranen der Betonstufen immer – und natürlich zurecht – betonen, dass die Stimmung früher besser war, sollte man nachfragen, welches Früher sie meinen. Denn bis etwa Mitte der Achtziger war die Südtribüne zwar ein lauter, energiegeladener Ort, aber keineswegs der Mythos, der sie heute ist.
Am 24. November 1976, zwei Jahre nach der Eröffnung des Stadions, bot der BVB zum ersten Mal Dauerkarten auch für die Stehränge an. Sie galten für alle Heimspiele der am 15. Januar beginnenden Rückrunde und kosteten 64 Mark. Verkauft wurden gerade einmal 230 solcher Tickets. Das soll nicht heißen, dass die Südtribüne damals immer leer war. Aber wenn man nicht gerade in einem der beiden zentralen Blöcke – Zwölf und Dreizehn, damals wie heute die Stimmungsblöcke und als „Drölf“ bekannt – stand, hatte man durchaus Platz, um herumzulaufen.
Heute kann man sich kaum vorstellen, dass bis in die Neunziger Eisverkäufer über die Tribüne spazierten, gefolgt von Männern mit Bierfässern auf dem Rücken. Oder dass bis in die Achtziger zur zweiten Halbzeit die Stadiontore geöffnet wurden, so dass man umsonst auf die Stehtribünen kam. (Vor allem Jugendliche machten von diesem Angebot Gebrauch, weshalb die Süd nach der Pause immer voller war als vorher.) Und in den Siebzigern schlenderte ein beleibter, als Clown geschminkter Mann mit einer Pauke vor dem Bauch über die Stufen und trommelte, was das Zeug hielt. Er war als „Onkel Otto“ bekannt. Später, als die Tribüne immer voller wurde, hielt er sich lieber unten auf.