Lange kämpfte die Südkurve in Jena ums Überleben. Ohne Erfolg. Erinnerungen an eine besondere Kurve.
6. Dezember 2013. Mehr als tausend Menschen ziehen singend und klatschend durch die Straßen Jenas. Sie rufen „Unsere Heimat ist das Sportfeld“ und „Fußball in Jena: EAS“, womit das Ernst-Abbe-Sportfeld gemeint ist. Erschrocken eilt schnellen Schrittes der Oberbürgermeister zur Versammlungsstelle vor dem Volksbad. Der Grund für die Proteste: Die Stadt will eine neue Fußballarena an der Autobahn errichten, das gefällt den Fans nicht. Ein Redner sagt: „Im EAS fühle ich Heimat.“ Noch am selben Abend erklärt der OB den Journalisten, dass er den Plan für einen Neubau ad acta gelegt hat. Die Fans haben das Spiel gedreht. Vorläufig.
Im Unterschied zu den übrigen relevanten Fußballvereinen des Ostens reicht die Geschichte des FC Carl Zeiss Jena bis weit vor die Zeit der DDR zurück. Am 13. Mai 1903 gründeten Arbeiter, Lehrlinge und Angestellte der Firma Carl Zeiss ihren eigenen Klub, dessen Heimstatt der malerisch an der Saale gelegene Volkspark namens „Paradies“ war. Dort errichteten die Mitglieder dann auch ihr eigenes Stadion, das 1924 eingeweiht wurde und später zu Ehren eines Zeiss-Mitbegründers den Namen „Ernst-Abbe-Sportfeld“ erhielt. Der Name blieb durch alle Zeiten und Systeme bis heute erhalten – selten im deutschen Profifußball.
Jena spielte Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger national seinen erfolgreichsten Fußball. Neben dem munteren Spiel auf dem Platz zog das Geschehen auf der Gegengerade die jungen Besucher in seinen Bann. Dort befand sich auf Höhe der Mittellinie ein Bereich, der als „Unter der Uhr“ bekannt war. Die aktiven Fans versammelten sich nämlich unter einem Oktagon mit einer runden Uhr darin, die auf einer Säule die Zuschauertraversen überragte. Die Typen in diesem Block waren ein Faszinosum. Schon ihr Äußeres widersprach allem, was man in der DDR unter einer „sozialistischen Persönlichkeit“ verstand. Landläufig nannte man solche jungen Leute „Gammler“: Jeansjacke, Jeanshose, Fleischerhemd, Turnschuhe, lange Haare, unrasiert und um den Hals den von der Oma gestrickten Schal.
Später verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Blocks von der Gegengerade auf die Südtribüne. Aus dem damals noch flachen Wall schien eine riesige blau-gelb-weiße Fahne zu erwachsen. Den Träger des Banners kannte jeder. „Sparschwein, Sparschwein, Sparschwein“ wurde skandiert. Herrn Rudolf, alias Sparschwein, würde man heute einen Vorsänger nennen. Damals zelebrierte er seinen Auftritt regelrecht. Ein extrovertierter Typ, der vom Aussehen her an Freddy Mercury erinnerte.
Die Jenaer Fanszene zeichnete sich durch großen Zusammenhalt aus, war zu jener Zeit aber nicht übermäßig groß. Doch in den Siebzigern und Achtzigern wuchs die blau-gelb-weiße Anhängerschaft auch überregional sehr stark. Der Grund dafür waren die Europapokalabende des FCC. Hin und wieder gelang es sogar, auch Spitzenmannschaften aus dem Pokal zu kegeln. Alles überragend, unvergessen und heutzutage fast schon mythisch verklärt wird ein Spiel im Europacup der Pokalsieger gegen den AS Rom, der als Spitzenreiter der Serie A nach Thüringen reiste. Obwohl das Hinspiel sang- und klanglos mit 0:3 verloren worden war, war das EAS mit 19 000 Zuschauern restlos ausverkauft. Die hoffnungslose Ausgangsposition hatte auch einen positiven Aspekt, denn die sonst üblichen Nörgler und Miesepeter schienen an diesem Abend zu Hause geblieben zu sein.
Von der ersten Minute an feuerten die Zuschauer den FCC frenetisch an, es herrschte eine geradezu südländische Atmosphäre im Sportfeld. Von dieser Stimmung getragen, wuchs die Jenaer Mannschaft auf dem Rasen über sich hinaus. Schon zur Halbzeit stand es 2:0. In der 70. Minute wechselte Trainer Hans Meyer dann den blutjungen Andreas Bielau ein. Nur Sekunden später egalisierte der wieselflinke Stürmer das Resultat aus Rom, um zwei Minuten vor Spielende mit einem weiteren Treffer seinen Legendenstatus zu zementieren. Abpfiff und Platzsturm erfolgten synchron. Für die Zeiss-Fangemeinde gilt diese Partie seither als „Mutter aller Spiele“.