So ein Jahr, so wunderschön: 11FREUNDE-Mitarbeiter erinnern sich an ihren ganz persönlichen Moment 2012. Hier lest ihr, warum Tim Jürgens beim Relegationsrückspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC auf der heimischen Couch gehörig ins Schwitzen kam.
Ein Redakteur von 11 FREUNDE genießt das Privileg, sein Interesse am Fußball und dessen schrägen Schnurren ab und an in ausführlichen Gesprächen mit den handelnden Personen abzugleichen. Auf diese Weise gelingt es manchmal, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und dem medialen Zerrbild eines Protagonisten oder dessen Aussagen zu ermessen. Und so begab es sich, dass der Autor den Manager von Hertha BSC, Michael Preetz, in der Aufstiegssaison 2010/11 im Rahmen einer Langzeitreportage durch eine Spielzeit begleiten durfte.
Preetz ist ein sehr kontrollierter Mensch, er wägt seine genau Aussagen ab und beherrscht im Gegensatz zu vielen seiner Amtskollegen das große Manager-Latein, das ihm ermöglicht, unkonkrete Konkretheiten auszusprechen ohne sich dabei selbst zu überhöhen oder anderen – selbst ärgsten Feinden wie Markus Babbel nicht – jemals öffentlich gegen das Schienbein zu treten. Journalisten haben mit Funktionären wie ihm gemeinhin ein Problem. Denn je weniger ein Manager polarisiert, desto weniger Nachrichtenwert besitzt er im überhitzen Bundesligamilieu.
Michael Preetz und seine wunde Stelle
Doch wie jeder andere hat auch Michael Preetz eine wunde Stelle. Er kultiviert nämlich eine grundlegende Abneigung gegenüber Unparteiischen und lässt sich im kleinen Kreise sogar zu Verschwörungstheorien gegenüber Verband und Schiedsgerichtsbarkeit hinreißen. Doch er tut es mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und einem furztrockenen Humor, der Michael Preetz ebenso zueigen ist wie seine bekannte rationale Seite. Doch darüber wird nur sehr selten geschrieben. Auch der Düsseldorfer Coach Norbert Meier steht nicht unbedingt in Verdacht, eine enge Freundschaft zu Referees und ihren Statthaltern an der Außenlinie zu unterhalten. Sein vorgetäuschter Kopfstoß gegen Albert Streit ist eine Ikone der Ligageschichte und in jeder Grundschulfibel als Paradebeispiel für unfaires Spiel verzeichnet.
Auch er ist ein cleverer Stratege, ein Fußballfachmann und viel mehr als der öffentlichkeitswirksame Derwisch, der nach Toren quer über den Platz sprintet, um sich auf ein Spielerknäuel fallen zu lassen. Abseits des Rasens hat er einen guten Instinkt dafür, mit welchem Journalisten er wie redet. Und er tut gut daran, denn er lebt im Rheinland, wo die Boulevardzeitungen sich gegenseitig mit Sensationsnachrichten überbieten. Meier weiß, dass die Düsseldorfer Arena in seiner Amtszeit zu einem Bollwerk geworden ist. Denn die Fortunen sind leicht zu begeistern und sie sehnen sich schon so lange nach mehr Bedeutung. Durchaus möglich, dass Meier die Emotionen der Zuschauer daheim durch sein gestenreiches Engagement bei Heimspielen befeuert. Jedenfalls erzählte er im 11FREUNDE-Interview, dass er und seine Kollegen sowohl beim Verband als auch bei den TV-Sendern schon länger unter besonderer Beobachtung stehen würden, und in der Rückrunde der Saison 2011/12 neunzig Minute eine Kamera auf ihn gerichtet sei.
Mit diesem Hintergrundwissen machte es sich der Autor beim Relegationrücksspiel zwischen Hertha BSC und Fortuna Düsseldorf im Mai 2012 also mit der Freundin vor dem heimischen Fernseher in Berlin gemütlich. Ein Wohnort wird etwas trister, wenn es keinen Bundesligisten gibt. Deswegen waren die Sympathien klar gelagert. Die Chance war klein, aber dennoch sollte die Hertha die Klasse halten. Bei allem Respekt für die emsigen Fortunen. Die ersten sechzig Minuten aber gaben wenig Anlaß zur Hoffnung. Das Einzige, was lief, war der Weißwein aus der neuen Lieferung vom spanischen Weinhandel in Kreuzberg.
Die Arena wurde zusehends inkontinent
Dann aber explodierte die Partie – im wahrsten Sinne des Wortes. Hertha-Fans zündeten nach dem 2:1 für die Düsseldorfer in ihrem Block bengalische Feuer. Ein erster Spielabbruch drohte. Immer wieder Donnerschläge auf der Tribüne. In der 85. Minute jedoch erzielten die Berliner den Ausgleich. Nun stand das Spiel auf der Kippe. Ein Tor reichte nun trotz der Hinspielniederlage wieder. Das Feuerwerk aber ging weiter, dabei waren Fortuna stehend K.o., und Schiedsrichter Wolfgang Stark zeigte sieben Minuten Nachspielzeit an. Hertha drückte, derweil die Fortuna-Fans nach und nach anfingen, über die Umzäunung zu springen. Die Arena wurde zusehends inkontinent, Düsseldorf konnte das Wasser einfach nicht mehr halten.
Es kam wie es kommen musste: Irgendwann wurde das Feld von Menschen geflutet. Der Richter sollte später von einem „positiv besetzten Platzsturm“ sprechen. In Otto Rehhagel hingegen wurden Erinnerungen an die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wach. In Großaufnahme fing die Kamera einen Fan ein, der das Rasenstück am Elfmeterpunkt aus dem Boden nestelte. Karneval im Mai. Die beklopptesten Fans der Welt. Irgendwo auf der Tribüne gröhlte Campino wahrscheinlich sein unsägliches „An Tagen wie diesen“. Auch das war leider ein integraler Bestandteil des Jahres 2012. Nach den Ausschreitungen am letzten Ligaspieltag erneut ein besonderer Auswuchs bizarrer Eventkultur im Profifußball. Für den TV-Zuschauer vielleicht nicht unbedingt ein optischer Hochgenuß, aber durchaus von Blutdruck steigerndem Unterhaltungswert. In Zeiten, in denen sich das Niveau des „Tatort“ im rapiden Sinkflug befindet, gibt man sich eben mit wenig zufrieden.
Denkblase: „ZACK!“, „RUMMMS!“
Zweifellos wissend, dass die Ereignisse für die direkt Beteiligten – insbesondere die Berliner – ein Horrorszenario darstellten. An der Außenlinie wieselte Meier auf und ab, gestikulierend wie der Hase aus der Duracell-Werbung. Auf der anderen Seite winkte Preetz mit seinen krakenartigen Armen. Das Wollknäuel und der Totenkopf in der Denkblase über seinem Kopf war deutlich sichtbar. Daneben zwei Wort, in Kapitälchen geschrieben: „ZACK!“, „RUMMMS!“
In seinem schwarzen Maßanzug wirkte er neben seinem gedrungenen Coach nun zusehends wie der Wiedergänger von Herman Munster. Auch im heimischen Wohnzimmer gab es in diesen Minuten Auflösungserscheinungen. Die Freundin hatte sich mit ihrem Weizenbierglas Weißweinschorle auf den Balkon verdrückt und rauchte wie Ernst Happel zu seinen großen Tagen Kette. Die Nerven. Ab und an vernahm man ein entrüstestes „bescheuert“, ein demprimiertes „Betrug“, „Können sie nicht machen“ oder einfach nur „Wiederholungsspiel“ von draußen.
Die Mannschaften hatten längst das Feld verlassen, die Frau ließ sich deswegen mit Mühe zur Rückkehr vor den Fernseher bewegen. Nachdem Schiedsrichter Stark abgebrochen hatte, dauerte die dritte Halbzeit im Wohnzimmer ganze siebzehn Minuten. Die Freundin sagte: „Das war’s dann wohl.“ Weißwein, Kippe, Weißwein, Kippe. Das alte Spiel. Wir sehen uns also am grünen Tisch?! Irrtum. Der Referee holte die Mannschaften wieder raus. In den Katakomben huschte Preetz mit starrem Blick schattenartig an der Kamera vorbei. Die Freundin senkte die Stimme: „Der arme Mann.“
Ein monumentales Drama
Dann pfiff Wolfgang Stark noch einmal an – offiziell für 120 Sekunden. Doch dann machte er, dieser sonst so überkorrekte Sparkassenheini aus der bayerischen Provinz, nach 97 Sekunden Schluss. Es gibt Partien, in denen reicht eine Situation, damit die ganze Nation am nächsten Tag etwas zu diskutieren hat. Dieses Relegationsspiel hatte von diesen Augenblicken geschätzt eine Lastwagenladung voll. Ein monumentales Drama, ein bisschen „Der Pate“, ein bisschen „Gesprengte Ketten“ und sehr, sehr viel „Ben Hur“.
Norbert Meier durfte sich schon tags drauf ins Goldene Buch der Stadt Düsseldorf eintragen. Die goldene Beruhigungspille für das belastbarste Nervenkostüm ging an Michael Preetz. Und den Ehren-Duden für den skurrilsten Kommentar in diesem unvergesslichen Spektakel erhielt Spiegel.de-Leser „kuddel37“, der am 15. Mai 2012 bei den Kollegen ins Forum postete: „Eswird Zeit das den jeweiligen Veranstaltern die Rechnung für die Poizeieinsätze wärend ihrer Veranstaltungen auch zahlen müssen.“ Großer Sport.