Wir erleben eine Saison ohne das Derby zwischen Dortmund und Schalke. Zwei Vereine, die sich hassen – die aber nicht immer Krieg führten. Ganz im Gegenteil: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang waren die Ruhrpottklubs fast dicke Kumpels.
Die Schalker kamen an jenem Tag nicht bloß auf ein Bier oder einen Sekt zum Nachbarn, sondern um sich in das Goldene Buch der Stadt Dortmund einzutragen. Das war eine Ehre – für Dortmund. Die Autoren des erwähnten Schalke-Buches schrieben, dass „Dortmund so tat, als ob eine einheimische Mannschaft Deutscher Meister geworden wäre“. Wirklich überrascht zeigten sie sich von dieser Begeisterung allerdings nicht, denn: „Die Knappen waren von jeher in der Bierstadt stets gerne gesehen.“ Das war keinesfalls übertrieben. Ja, man könnte sogar sagen, dass Dortmund damals das zweite Zuhause der Schalker war. Zwischen 1927 und 1939 trug S04 neun Endrundenspiele um die Deutsche Meisterschaft in der Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ aus.
Fast immer war das Stadion bis auf den letzten Platz gefüllt. Im April 1937 quetschten sich irgendwie sogar 47 000 Dortmunder in die Anlage, um Schalke gegen Hertha zu sehen – bis heute Rekord für ein Fußballspiel an diesem Ort. So verehrt wurde Königsblau in Dortmund, dass Arthur Trebing, der Platzwart der Roten Erde, einen Roten Teppich ausrollte, wenn Schalke zu Gast war. (Als Trebing es einmal vergaß, soll Fritz Szepan ihn höflich, aber bestimmt daran erinnert haben.)
Warum aber spielte Schalke so viele Partien dreißig Kilometer entfernt von daheim? Zum einen wurde Königsblau im Westen nicht als Team aus Gelsenkirchen verstanden, sondern als Nationalelf des Reviers. „Wo immer die Schalker im Ruhrgebiet auftraten, war ihnen der Applaus des Publikums garantiert“, schreibt BVB-Historiker Gerd Kolbe. „Schalke war der unumstrittene Repräsentant der Region, dem sich alle unterordneten.“ So trugen die Knappen in den Endrunden um die Meisterschaft einige der Partien, die als Heimspiele gewertet wurden, in Bochum, Essen oder sogar Münster aus. Doch am herzlichsten willkommen waren sie in Dortmund.
Das hatte auch mit der Qualität des dortigen Fußballs zu tun. Als Schalke in der Saison 1931/32 das Halbfinale um die Meisterschaft erreichte (natürlich nach einem Spiel in der Roten Erde), tummelten sich in der obersten westdeutschen Spielklasse gleich fünf Vereine aus Gelsenkirchen, aber nicht einer aus Dortmund. Die Stadt hatte keinen Klub, der so gut oder populär war, dass er in der Roten Erde hätte antreten können. Das Stadion war die Heimat der Leichtathletik; oft fanden hier auch Veranstaltungen wie Boxkämpfe oder Radrennen statt. Kein Wunder, dass die Fußballfreunde in Dortmund sich auf jeden Auftritt der Schalker Wunderelf freuten wie Kinder auf Weihnachten. „Es herrschte eine tiefe Sympathie“, fasst Gerd Kolbe das Verhältnis zusammen.
Dann waren da noch die familiären Verbindungen. Als die Kuzorras von Masuren ins Ruhrgebiet zogen, blieb eine Hälfte der Familie in Gelsenkirchen hängen, die andere in Dortmund. Deswegen wollte der älteste Dortmunder Verein, der DSC 95, den damals 21-jährigen Ernst Kuzorra schon 1927 aus Schalke weglocken. Man versprach ihm einen Job bei einer der Brauereien in Dortmund – und natürlich die üblichen Zahlungen unter der Hand. Doch es sollte eine Weile dauern, bis Kuzorra wirklich einen Posten in Dortmund übernahm. Das war 1935. Ein Stadtteilverein namens Borussia, der sich lange hinter Lokalrivalen wie Alemannia 97 oder Arminia Marten einordnen musste, wollte mit allen Mitteln nach oben und hatte deswegen zum ersten Mal einen Trainer verpflichtet: den ehemaligen Schalker Spieler Fritz Thelen. Weil Thelen zunächst verhindert war, übernahm sein Schwager den Job und gilt deswegen als erster Coach des BVB. Sein Name war Ernst Kuzorra. Unter der Führung von zwei Schalkern schaffte Borussia Dortmund 1936 den Aufstieg in die Gauliga Westfalen.