Antonio Cassano galt mal als das größte Versprechen im italienischen Fußball, bis er sich selbst aus dem Rampenlicht spielte. Längst hat sich das Sorgenkind zurück in die Herzen der Tifosi gespielt und vor allem geredet. Doch Nationalcoach Marcello Lippi lässt das kalt. Ganz Italien wartet vergebens auf seine Rückkehr in die Squadra Azzura. Kein Wunder, denn Antonio Cassano ist mehr als nur ein herausragender Stürmer. Er ist der Fußballer gewordene Beweis dafür, dass Genie und Wahnsinn derselben Wurzel entstammen.
Man stelle sich vor, Klaus Kinski wäre nicht Schauspieler geworden, sondern Fußballer. Wie dieser Fußball-Kinski wohl auf eine Gelbe Karte reagieren würde? Vielleicht würde er einen Tobsuchtsanfall kriegen, sein Trikot über den Kopf ziehen, sich in den Stoff verbeißen. Sich auf den Boden werfen, mit den Fäusten auf den unschuldigen Rasen trommeln, wieder aufstehen und anfangen zu heulen. Den Schiedsrichter bedrohen, um schließlich von Gegnern und Mitspielern wieder zur Raison gebracht zu werden. So zumindest reagierte Antonio Cassano, seines Zeichens einst Italiens größtes Fußball-Versprechen, während eines ganz normalen Ligaspiels – und das nicht nur einmal. Selbst in Italien, ein Land der liebevoll gepflegten Flüche und nonverbaler Gestik ist Cassano ob seiner Aussetzer eine absolute Ausnahme.
Und doch (oder gerade deshalb?): es gibt es nur wenige Spieler, die so hoch in der Gunst der Tifosi stehen. Das hat seine Gründe. „Enfant terrible“, schreckliches Kind, nennen die Franzosen solche Typen und man muss Italien nicht besonders kennen, um zu wissen, dass Kinder und Familie dort eine ganz besondere Rolle spielen. Antonio Cassano, inzwischen 27, ist für die meisten seiner Landsleute noch immer der kleine Junge aus dem Armenviertel von Bari. Ein Straßenkind, das ohne ein stabiles familiäres Umfeld aufwuchs und der eigentlich nur eine Sache gut konnte: Fußball spielen. Überall, zu jeder Zeit.
Am 18. Dezember 1999 spielt Cassano zum zweiten Mal für den AS Bari in der Serie A. Der 17-Jährige gilt schon vor dem Spiel als großes Talent, aber was er in diesem Spiel in der 88. Minute gegen Inter Mailand zeigt, macht ihn zum gefragtesten Nachwuchsfußballer Italiens. Als ein 50-Meter-Pass aus der eigenen Hälfte in seine Richtung segelt, nimmt Cassano den Ball im vollen Lauf volley mit der Hacke an, legt sich das Spielgerät selbst mit Kopf auf, spielt im Strafraum kurzerhand das Weltklasseverteidiger-Duo Panucci/Laurant Blanc aus und netzt dann souverän links unten zum 2:1‑Endstand ein. Ein Jahrhunderttor. Über Nacht ist aus der großmäuligen Rotznase ein berühmter Nachwuchsstar geworden.
Fußball. Immer. Überall. Zu jeder Zeit.
Auf die Frage, wie dieser Moment sein Leben verändert habe, sagt Cassano später: „Bevor ich berühmt wurde, bin ich in der Schule sechsmal sitzen geblieben und keine Frau beachtete mich. Danach ließ man mich sofort bestehen und ich war plötzlich Brad Pitt.“ Dass sich der neu gewonnene Starrummel jedoch alles andere als unterstützend auf seinen Reifeprozess auswirkte, lässt sich an den zahlreichen Eskapaden erkennen, die sich Cassano in der Folgezeit leistet: Er beschimpft Trainer, bespuckt Gegenspieler und prahlt in der Presse damit, wie viele Frauen er pro Woche flach legen würde. 2001, nach zwei durchschnittlichen Spielzeiten, transferiert man ihn für unglaubliche 30 Millionen Euro zum AS Rom, um an der Seite seines Vorbilds Francesco Totti zu spielen.
Auch in der ewigen Stadt fällt der 19 Jahre alte Hitzkopf zunächst nur durch Skandale auf. Seine ständigen Ausraster und Platzverweise paaren sich mit einer schlampigen Trainingseinstellung und einem ausschweifenden Privat- und Nachtleben. Roma-Coach Fabio Capello lässt sich spontan zu einer Wortneuschöpfung inspirieren: Die „Cassanata“ (Cassan-ismus), Bezeichnung für die oft mannschaftsschädigenden Fisimatenten des Jungen aus Bari, geht in den italienischen Fußballwortschatz ein. Und doch ist es eben der so farblos wirkende Capello, der mit ewiger Geduld aus dem schlurigen Talent nach und nach einen Top-Fußballer formt.
In der dritten Saison bedankt der sich mit 14 Ligatoren und zahlreichen Torvorlagen. Ein ganz besonderes Geschenk macht er seinem Trainer-Vater im Klassiker gegen Juventus Turin im Februar 2004. Vor dem Spiel verspricht ihm Cassano freimütig, im Falle eines Tores die Eckfahne durchzutreten. Er holt einen Elfmeter raus, schießt zwei Tore und säbelt die Stange mit seinem Schuh so sauber in der Mitte durch, dass es Minuten dauert, bis Ersatz gefunden ist.
Im gleichen Jahr fährt er mit der Nationalmannschaft zur EM nach Portugal. Cassano ist der beste Spieler einer schwachen Squadra Azzura und erzielt zwei Tore in drei Spielen. Doch Italien scheidet in der Vorrunde aus und auch für Cassano geht es wieder abwärts. Als Capello die Roma 2004 verlässt, zeigt sich einmal mehr, warum der Stürmer den Spitznamen „Peter Pan“ völlig zu Recht trägt. Cassano ist immer noch weit davon entfernt erwachsen zu sein. Das spüren auch seine Folgetrainer. Darunter ein gewisser Rudi Völler, der es auch dem talentierten Querulanten zu verdanken hat, dass sein Engagement bei der Roma nur einen kümmerlichen Monat andauert.
Obwohl sich ein Weggang schon früh abzeichnet und seine Leistungskurve in Rom stark nach unten zeigt, dauert es dennoch bis Anfang 2006, bis Cassano schließlich zu Real Madrid wechselt, auch dort findet er nicht zu alter Stärke. Zwar folgt ihm kurz danach sein alter Spezi Capello, aber selbst unter dem Landsmann kommt Cassano kaum zu Einsätzen. Er nutzt die freie Zeit, zur ausgiebigen Erkundungstour durch die spanische Küche und trägt bald einen ansehnlichen Ranzen vor sich her.
Der Mops aus Bari
Dass er nicht vollends zum Mops aus Bari wird, ist dabei wohl weniger seinem fußballerischen Engagement zu verdanken, als vielmehr einer anderen körperlichen Betätigung: mit fast 700 Frauen will Cassano schon geschlafen haben, erzählt der selbst ernannte Oberstecher mit stolz geschwellter Brust. TV-Moderatorin Michelle Hunziker kann dem Proll-Charme des Italieners wiederstehen, und lässt sich selbst dann nicht überreden, als ihr Cassano anlässlich des Schlagerfestivals in San Remo 500 Rosen in die Garderobe bringen lässt.
Endgültig besiegelt wird Cassanos Schicksal bei Real schließlich durch eine weitere „Cassanata“ allererster Güte. Vor einem Auswärtsspiel der „Königlichen“ fängt Cassano – noch im schicken Madrider Ausgehanzug – ein Gespräch mit dem Franzosen Diarra im Innenraum des Stadions an. In eindeutigen Posen ahmt er Ziehvater Capello nach, dessen strengen Gesichtsausdruck der Stürmer äußerst talentiert imitieren kann. Ein spanischer Sender filmt das Schaustück per Zufall, engagiert einen Lippenleser und stellt fest, dass sich der Bankdrücker lang und breit über die Aufstellung seines Trainers auslässt. Capello reagiert erheblich verschnupft und sperrt sowohl Cassano, als auch Gesprächspartner Diarra. Der Bruch zwischen Vaterfigur und Zögling ist perfekt. Seitdem sieht man Cassano in Interviews nur noch mit Hand vor dem Mund. Gepflegte Paranoia.
In Spanien hat man langsam die Nase voll, 2007 wechselt Cassano auf Leihbasis zurück nach Italien. Zu Sampdoria Genua. Was folgt, lässt sich als klassisches Win-Win-Geschäft titulieren. Die Madrilenen, endlich befreit von täglichen Eskapaden haben ihre Ruhe zurück, das eher durchschnittliche Genua bekommt dafür plötzlich einen neuen Spielgestalter der Extraklasse. Denn: Cassano blüht wieder auf. Und wie. Er dribbelt wieder wie in besten Zeiten, lässt reihenweise drei, sogar vier Gegenspieler aussteigen, und wird schnell der neue Held in der Hafenstadt., mit zwei Treffern im Derby gegen den CFC Genoa zaubert er sich in die Herzen der Sampdoria-Anhänger. Fast scheint es, als würde er sein Versprechen einhalten, sich fortan nur noch auf den Fußball zu konzentrieren.
Doch im März 2008 ist er wieder der zornige Junge, für den die Welt voller Ungerechtigkeit ist. Im Spiel gegen Turin, Cassano hatte zuvor den 2:2‑Ausgleich erzielt, wird er wegen Meckerns vom Platz gestellt. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten: erst fliegt dem Schiedsrichter das Trikot des Bestraften ins Gesicht, dann folgen die Worte: „Ich warte draußen auf dich!“ Fünf Spiele Sperre musste er dafür hinnehmen.
Cassano wäre nicht Cassano, wenn er nicht nach der Sperre wieder mit brillanten Aktionen punkten würde. Dank seiner Leistungen erreicht die Sampdoria den Uefa-Cup, pünktlich zur EM in Österreich und der Schweiz trägt er wieder das Nationaltrikot. Der neue Coach Marcello Lippi sortiert Cassano aber bald wieder aus. Verwunderlich. Denn Peter Pan scheint tatsächlich erwachsen geworden zu sein.
Seit der letzten „Cassanata“ ist jetzt mehr als ein Jahr vergangen. Der Testosteron-Jünger steckt gar in einer festen Beziehung: mit einer italienischen Wasserball-Spielerin. In der laufenden Spielzeit steht er nach fünf Spieltagen mit Sampdoria auf Platz drei in der Seria A, ein Tor und eine Vorlage stehen zu Buche. Eine Berufung in die Nationalmannschaft bleibt weiterhin aus. Ein Schritt, den selbst die konservative „Gazzetta dello Sport“ nicht nachvollziehen wollte. Das Fachblatt schlug sich auf die Seite von Cassano, verglich ihn sogar mit Zlatan Ibrahimovic. Lippi reagierte prompt: „Kampfhähne, die nur den Hühnerstall aufscheuchen, brauche ich nicht.“ Cassano bleibt gelassen: „Ich habe noch nie mehr als 60% meines fußballerischen Könnens abgerufen. Sich-Anstrengen und Trainieren ist echt nicht mein Ding!“
Die Geschichte von Antonio Cassano, Frauenheld, Kindkopf und Fußball-Genie, sie ist noch längst nicht zu Ende.
Der Text erschien im großen Italien-Reiseführer der Kollegen von 3 ECKEN EIN ELFER