Roberto Carlos hat alles gewonnen, was man gewinnen kann. Heute wird er 50 Jahre alt. Hier erklärt er, warum die Brasilianer nicht mehr erfolgreich sind – und wie sein Freistoß-Geheimnis lautet.
Dieses Interview erschien erstmals im Juli 2021.
Roberto Carlos, 2002 haben Sie mit Brasilien die Deutschen im WM-Finale geschlagen. Haben Sie besondere Erinnerungen an dieses Spiel und an die Party danach?
Ich erinnere mich, dass wir damals gegen eines der besten Teams der Welt gespielt haben. Die Deutschen hatten wunderbare Spieler wie Oliver Kahn, Oliver Neuville, insgesamt einfach ein sehr starkes Team. Und die Atmosphäre war beeindruckend, das Stadion in Yokohama war restlos ausverkauft. Die Deutschen waren stark aufgestellt, aber an dem Tag waren wir einfach besser. Wir hatten Ronaldo, der genial war an diesem Tag. Für mich war es ein großartiger und unvergesslicher Tag.
Sie haben gerade Oliver Kahn erwähnt. Er wurde damals zum Spieler des Turniers gewählt, obwohl er im Finale einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Was sind Ihre Erinnerungen an ihn?
Für mich war Oliver Kahn einer der besten Torhüter in meiner Zeit, wir haben ja auch oft gegeneinander in der Champions League gespielt. Wir sollten Fehler während eines Turniers nicht mit der Leistung von Kahn zusammenbringen, jeder macht mal Fehler und die sollten nicht genutzt werden, um seine Erfolgsgeschichte zu vermindern. Er war ein Vorbild, der beste Torwart in Deutschland und der beste Torwart der Welt.
Wenn Kahn der beste Torhüter seiner Zeit war, wer ist es dann heute?
Der beste Torhüter ist Thibaut Courtois.
Brasilien hat gerade im Finale der Copa America gegen seinen größten Rivalen Argentinien verloren. Wenn Sie das heutige brasilianische Team mit Ihrem Team vergleichen, wo sehen sie dann Unterschiede?
Wir haben einen Teil unserer Identität, unsere Art Fußball zu spielen, verloren. Der Fußball ist heute sehr viel taktischer als damals, alles dreht sich um Taktik. Als Fußballer musst du das respektieren, aber auch das Jogo Bonito sollte respektiert werden. Im modernen Fußball geht es vor allem um Körperlichkeit, Taktik und die individuelle Qualität. Das sind Veränderungen, die man verstehen muss. Mein Team hat alles gewonnen und ich will, dass Brasilien jetzt auch alles gewinnt, aber das ist natürlich schwer. Fußball wird einfach nicht mehr so gespielt wie früher.
„Heutzutage haben die Fußballer aufgehört zu trainieren.“
Bei den Olympischen Spielen sind drei Spieler aus der Bundesliga im brasilianischen Team: Matheus Cunha von Hertha BSC, Paulinho von Bayer Leverkusen and Reinier, der gerade von Real an Borussia Dortmund ausgeliehen ist. Was denken Sie über die Drei?
Reinier von Madrid ist ein sehr junger Spieler, der sich noch entwickelt. Ich denke, dass ihm die Zeit in Deutschland helfen wird, sich als Profi weiterzuentwickeln. Er ist ein exzellenter Spieler. Matheus Cunha ist wahrscheinlich der am weitesten entwickelte Spieler von diesen drei, weil er schon eine Weile in Deutschland spielt. Es sind alles sehr gute Spieler und wir müssen dem deutschen Fußball dankbar sein; nicht nur Brasilien, sondern der ganze südamerikanische Fußball. Die Spieler entwickeln sich in Deutschland sehr schnell. Je mehr Brasilianer in Deutschland spielen, desto besser.
Jeder kennt Sie wegen ihrer großartigen Freistöße. In Brasilien sind Sie nicht der Einzige mit dieser besonderen Qualität. Juninho (77), Pelé (70) und Ronaldinho (66) haben die meisten direkten Freistoßtore aller Zeiten erzielt. Auch Zico war großartig und Rogério Ceni war sogar als Torhüter ein sehr guter Freistoßschütze. Wie lautet das Geheimnis für gute Freistöße in Brasilien?
Es gibt kein Geheimnis. Es dreht sich alles ums Training, es geht darum, den Freistoß nach dem Training täglich 30 bis 40 Minuten zu trainieren. Heutzutage haben die Fußballer aufgehört zu trainieren. Sie duschen und gehen nach Hause, deshalb gibt es nicht mehr soviele tolle Freistoßschützen wie früher. Es gibt Lionel Messi, er trainiert jeden Tag seine Freistöße, aber das ist einer von 2000 Spielern.
Haben Sie eine besondere Erinnerung, wenn Sie an Ihre Zeit als Teil der „Los Galacticos“ in Madrid denken?
Bei Real Madrid habe ich mit den besten Spielern der Welt gespielt. Das erzeugt einerseits viel Druck. Aber mit diesen Spielern zu reisen, war die beste Erfahrung meiner Karriere. Da waren Beckham, Figo, Ronaldo und so viele andere Spieler. Es war der Höhepunkte meiner Karriere.
Sie haben einmal gesagt, Ronaldo sei Ihr bester Kumpel im Team gewesen. Warum haben Sie sich so gut verstanden?
Ich muss gestehen: Es war unerträglich, mit ihm ein Zimmer zu teilen. Er ließ mich einfach nicht schlafen (Lacht.). Spaß beiseite, 20 Jahre lang haben wir uns bei Auswärtsreisen ein Zimmer geteilt. Das war eine wundervolle Erfahrung. Deshalb ist er mein bester Freund.
Der Engländer Luke Shaw hat den Spitznamen „Shawberto Carlos“ von seinen Teamkollegen verliehen bekommen. Ist er ein würdiger Namensvetter?
Ich freue mich sehr, mit ihm verglichen zu werden und ebenso sehr, dass er mit mir verglichen wird. Ich bin immer auf den Platz gegangen, um mein Bestes zu geben, und er ist ein Spieler, der sich von Tag zu Tag verbessert, Spiel für Spiel. Daher bin ich mit dem Vergleich sehr zufrieden. Aber wir haben sehr unterschiedliche Stile. Ich denke, dass er derzeit einer der besten Spieler auf seiner Position als Linksverteidiger ist.
Wer war für Sie der beste Verteidiger der letzten 20 Jahre, Sie eingeschlossen?
Paolo Maldini. (Pause.) Wissen Sie, ich rede nicht gerne über mich (Lacht.).
Was vermissen Sie am meisten daran, ein aktiver Spieler zu sein? Wachen Sie manchmal morgens auf und denken: Heute würde ich gerne wieder auf dem Platz stehen?
Ich habe in sehr jungen Jahren mit dem Fußball angefangen und war immer noch sehr jung, als es mit meiner Karriere losging. Es gab viel Druck, viele Anforderungen und viel Verantwortung. Wenn ich morgens aufwache, bin ich einfach nur dankbar, dass ich eine so komplette Karriere hatte. Ich vermisse das Fußballspielen nicht, weil ich alles gegeben habe. Ich hatte eine tolle Karriere auf und neben dem Platz. Aber ich bin immer noch ein Teil von Real Madrid, also reise ich an Spieltagen mit der Mannschaft. Es ist toll, dabei zu sein und zu sehen, wie sich die jungen Spieler auf dem Platz entwickeln. Aber ich vermisse es nicht, weil ich mich mit meiner gesamten Karriere sehr erfüllt fühle.
Welche Herausforderung würde Sie in Zukunft noch reizen?
Ich denke immer noch daran, Brasiliens Nationaltrainer zu werden.
Danke für das Gespräch.
(Spricht deutsch.) Dankeschön.