Heute vor 14 Jahren starb Robert Enke. Sein Mannschaftskamerad, Nachfolger und Freund Florian Fromlowitz erinnert sich.
Hinweis: Der Text entstand im November 2014 und wurde erstmals im Dezember 2014 veröffentlicht.
Ich stand am Grab von Robert und hörte eine Stimme. Es war der 15. November 2009, der Tag der Beerdigung. Jemand hielt eine Rede, dann Stille; es regnete in Strömen. Später erzählte ein Mitspieler, dass mein Name gefallen sei. Ich nickte, dabei hatte ich nichts mitbekommen. Alles war leer, ich fühlte mich wie in Trance. Erst als Teresas Mutter vor mir stand, wurde ich für wenige Sekunden klar. „Du wirst alle Kraft brauchen, um die nächsten Monate zu bewältigen“, sagte sie. „Doch sei sicher: Wir stehen voll hinter dir.“ Es war ein kurzer guter Moment an diesem traurigen Tag.
Als ich Robert zum ersten Mal traf, waren wir mit Hannover 96 im Trainingslager. Es war der Sommer nach der EM 2008, und er stieß etwas später zur Mannschaft. „Hallo, ich bin Robert.“ – „Hallo, ich bin Flo.“ Da stand er also. Dieser Mann, der selbst in den wildesten Abwehrschlachten eine Ruhe wie ein Kapitän auf hoher See ausstrahlte. Robert, das war mir klar, würde in Südafrika Jens Lehmann beerben. Ich verstand nie die Diskussion, die nach dem Spiel gegen Russland aufkam. René Adler hielt sehr gut, kein Zweifel. Doch mussten ihn die Medien deswegen zur neuen Nummer eins für die WM erklären? Robert war und blieb für mich der beste, denn er war der kompletteste Torhüter.
Als ich vom 1. FC Kaiserslautern nach Hannover wechselte, waren die Rollen daher klar verteilt. Robert war der Stammtorwart, ich war seine Vertretung. Das war okay für mich, denn ich war lange verletzt gewesen und wollte nun von einem gestandenen Keeper lernen, mich verbessern, hart trainieren, und da sein, wenn man mich brauchte. Vielleicht würde ich irgendwann mal der Nachfolger von Robert werden. Vielleicht könnte ich mich so auch für andere Klubs interessant machen.
Robert sprach nie viel. Er wirkte oft in sich gekehrt, nachdenklich. Ich sah ihn auch selten lachen, dabei waren die Momente, wenn er mal fröhlich war, wirklich schön. Ich mochte es, wenn wir zusammen beim Italiener saßen und Robert und Hanno Balitsch aus ihrer Lieblingsserie „Stromberg“ zitierten. Später fragte ich mich oft: Was habe ich überhaupt von ihm gewusst? Er liebte Tiere. Er wohnte auf einem Bauernhof mit seinen Hunden und seiner Frau Teresa. Sie hatten eine Tochter verloren und später ein Mädchen adoptiert. Als ich zur Beerdigung fuhr, sah ich das Haus zum ersten Mal. Das muss sein Rückzugsort gewesen sein, dachte ich, fern vom ganzen Rummel, dem großen Fußballzirkus.
Ich war damals 23 Jahre alt und hatte bei Gerry Ehrmann gelernt. Eigentlich war ich das totale Gegenteil von Robert. Ich war emotional, laut, manchmal aufbrausend. Ich jubelte oft exzessiv, wenn wir ein Tor schossen, ich ballte die Faust, wenn mir eine besonders gute Parade gelang. Weiter, immer weiter. Robert sagte mir einmal, dass ich mich nicht verstellen solle, mir aber ein wenig mehr Ruhe guttun könnte. Ich probierte es aus und verzichtete auf die großen Jubelgesten – es half mir tatsächlich, ich wurde ausgeglichener und mein Spiel besser.
Als ich Robert zum letzten Mal sah, saßen wir in der Kabine des Niedersachsenstadions. Es war der 8. November 2009. Wir hatten gerade 2:2 gegen den HSV gespielt, und Robert hatte ordentlich gehalten. Er warf seine Tasche über die Schulter und verließ den Raum. „Tschüs, Flo“ – „Tschüs, Robert!“ Wir hatten am Montag und Dienstag trainingsfrei, denn es war Länderspielpause. Ich wollte die Tage mit meiner Frau verbringen. Robert wollte sterben. Am Dienstag. Das wusste er schon, als er die Kabine verließ. Vielleicht sogar lange davor.
Später schossen mir immer mal wieder Szenen aus den letzten gemeinsamen Wochen in den Kopf. Da war etwa das vorletzte Spiel in Köln. Unser Torwarttrainer Jörg Sievers war nicht mitgekommen, daher schoss ich Robert warm. Das ist unter Torhütern nicht unbedingt normal, doch Robert fand es offenbar gut, wie ich ihm die Bälle zuschoss, und das ehrte mich. Nach dem Einschießen sagte er, beinahe beiläufig: „Flo, du wirst hier bald deine Spiele bekommen.“ Ich verstand ihn damals nicht. Heute läuft es mir kalt den Rücken runter.
Vom Selbstmord erfuhr ich am Telefon von meinem ehemaligen Mitspieler Bastian Schulz. Ich kam an jenem Dienstag von einem Stadtbummel mit meiner Frau heim. „Bastian, darüber macht man keine Scherze“, sagte ich. Doch dann schaltete ich den Fernseher an. Die flimmernden Bilder von den Schienen in Eilvese, die Lichter, die Kameras, das Entsetzen. Wir trafen uns am späten Abend am Stadion. Noch auf dem Weg dahin wollte ich es nicht glauben. Erst als ich in die Gesichter meiner Mitspieler blickte, in diese traurigen Augen, kam mir die Gewissheit. Ich hatte den Tod bis dahin nie so nah erlebt; die Wucht war gewaltig. Als ich wieder zu Hause war, brach es aus mir raus, ich weinte und weinte, und meine Frau weinte auch.
Die kommenden Tage verbrachte ich in Kaiserslautern, um Abstand zu gewinnen. Als ich zurückkam, erschlug es mich fast. In den Zeitungsberichten war zu lesen, dass ich die unmenschliche Last des Enke-Erbes tragen würde. Und als ich zum Stadion fuhr, durchquerte ich eine trauernde Stadt, über die sich eine bleierne und beinahe unwirkliche Schwere gelegt hatte. Doch jeden Morgen mussten wir feststellen, dass es kein Albtraum war. Auf dem Trainingsplatz das leere Tor, in der Kabine der leere Platz. Dann gab es diese riesige Trauerzeremonie im Stadion. Dazu jeden Tag neue Berichte, neue Interviews, neue Bilder.
Ich habe mich in dieser Zeit oft gefragt, wie man richtig mit Roberts Tod umgehen soll. Manchmal dachte ich: Er war krank, und sein Selbstmord war sicherlich keine Heldentat. Warum dachte also niemand an die, die unter all diesen Eindrücken weiterspielen oder weiterleben sollen? Andererseits wusste ich auch, dass die Menschen in Hannover eine besondere Beziehung zu Robert hatten. Wie verabschiedet man also so eine Person, ohne dass die Weggefährten unter der Wucht zusammenbrechen? Irgendwann schaltete ich den Fernseher aus. Ich wollte nicht mehr an Fußball denken. Und ich wollte ich mich nicht damit beschäftigen, dass ich nun ins Tor gehen musste. Doch die Tage vergingen wie im Fluge, es musste weitergehen – auch wenn wir noch lange nicht bereit waren.
Das erste Spiel fand auf Schalke statt. Vor dem Anpfiff gab es eine Schweigeminute, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Später bescheinigte man mir eine gute Leistung. Es hieß, ich sei der Situation erstaunlicherweise gewachsen gewesen. Tatsächlich befand ich mich im Tunnel. Es war Maskerade. Der Versuch, mit der Situation irgendwie fertig zu werden.
Es folgten grauenhafte Wochen, wir verloren Spiel um Spiel, einmal sogar 0:7 gegen den FC Bayern, und plötzlich steckten wir knietief im Tabellenkeller. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn wir damals wirklich abgestiegen wären, hätte der Verein das kaum überlebt. Doch an den letzten zwei Spieltagen verwandelte sich alles Pech, das wir bis dahin hatten, in Glück. Wie durch ein Wunder gewannen wir mit 6:1 gegen Gladbach und 3:0 in Bochum. Im Ruhrstadion rollten wir ein Plakat aus, auf dem stand „RIP Robert“, und wir schickten unsere Grüße hinauf in den Himmel.
Ich glaube nicht an Zufälle. Ich glaube, dass alles miteinander zusammenhängt. Zum Beispiel, dass ich jetzt in Wiesbaden bin, bei einem Drittligisten. Ich bin gerne hier, weil ich endlich wieder von Menschen umgeben bin, die an mich glauben. Doch ich weiß, dass meine gesamte Karriere mit Robert verbunden ist. Dass alles ein Stück weit mit diesem 10. November 2009 zu tun hat. Ich bin auf ewig der Torwart, der auf Robert Enke folgte. Der Torwart, der irgendwann tief fallen musste. Wäre ich auch hier, wenn Robert noch leben würde?
Nach dem Klassenerhalt spielten wir 2010/11 richtig guten Fußball. Ich nahm mittlerweile auch die Gespräche mit unserem Psychologen Andreas Marlovitz wahr. Anfangs wollte ich ihn nicht treffen, denn ich dachte, entweder kannst du Fußballspielen oder eben nicht. Heute weiß ich: Das ist Quatsch. Er half mir sehr, er hörte mir zu, wenn ich mich auskotzte, er erklärte mir etwas, wenn ich Fragen hatte. Noch heute telefonieren wir miteinander. Außerdem rückten wir in diesem Jahr als Mannschaft näher zusammen und trafen uns nun regelmäßig privat. Ich unternahm häufig was mit Jan Schlaudraff, Konstantin Rausch, Felix Burmeister, Lars Stindl oder Moritz Stoppelkamp, wir wurden eine richtige Clique. Und so seltsam das klingen mag: Es waren die besten Monate meiner Profikarriere. Auf einmal merkte ich, dass Freundschaft auch im schnelllebigen Fußballgeschäft möglich ist. Doch die Zeit endete abrupt. Nach der Winterpause nahm mich Mirko Slomka aus dem Tor. Er wolle der Jugend eine Chance geben, und die hieß Ron-Robert Zieler. Im Nachhinein kann man ihn dafür nicht kritisieren, Ron ist heute Nationalspieler. Doch auch ich hielt damals gut, und wir waren immerhin Vierter in der Bundesliga.
Vielleicht war es ein Fehler, sofort zu wechseln, doch damals wollte ich unbedingt spielen. Ich hatte ein Angebot vom FC Bologna vorliegen, doch weil es uns dort nicht so gefiel, entschied ich mich für die sichere Variante und wechselte zum MSV Duisburg. Anfangs, unter Milan Sasic, lief es noch gut, doch dann wurde er entlassen, und ich machte den schlimmsten Fehler meiner Karriere: Ich haute aus dem Mannschaftshotel ab, nachdem der neue Trainer Oliver Reck mir erklärt hatte, dass ich am kommenden Wochenende nur auf der Bank sitzen würde. Er versuchte mich noch per Handy zu erreichen, doch ich ging nicht ran. Was damals niemand wusste: Ich fuhr direkt zu meiner Frau, die im Krankenhaus lag und eine Fehlgeburt hatte. Fußball, dachte ich da, scheiß auf Fußball! In der Presse und bei den Fans war ich nun untendurch. Ich galt als arroganter Egoist, der seine Mannschaft im Stich lässt.
Danach ging ich zu Dynamo Dresden, wo man mir einen fairen Zweikampf mit Benjamin Kirsten versprach. Doch Ulfs Sohn in Dresden zu verdrängen, ist schwer. Zugegeben: Er hielt auch gut. Die Situation wurde richtig blöd, als der Klub noch einen weiteren Torhüter verpflichtete. Plötzlich hatte Dynamo vier Keeper, und jeder fragte sich: Was soll das? Mir lag dann ein Angebot aus Sandhausen vor, doch Dynamo wollte mich nicht gehen lassen. Ich verstand die Welt nicht mehr.
Natürlich ist jeder seines eigenen Glückes Schmied, und ich will nicht sagen, dass ich keine Fehler gemacht habe. Trotzdem habe ich mir damals oft die Sinnfrage gestellt und hatte Existenzängste. Wie tief sollte es noch gehen? Ich hatte ja geahnt, dass es nach Hannover nicht einfach werden würde. Doch dass der Abstieg so schnell kommen würde, hätte ich nie gedacht. Auf Europa-League-Kurs mit Hannover 2011, danach nur noch 15 Spiele und 2014 zweiter Torwart in der Dritten Liga.
Roberts Tod ist nun fünf Jahre her. Oft wurde ich gefragt, ob der Fußball seitdem sensibler geworden ist. Ich finde ja. Zumindest habe ich das Gefühl, dass viele Vereine sich Gedanken über psychologische Betreuung machen, und so das Thema Depression nicht mehr so tabuisiert wird wie noch vor einigen Jahren. Natürlich ist der Druck im Fußball immens. Wenn du nicht funktionierst, bist du raus. Doch ist das nur im Fußball so?
Ich habe offenbar nicht mehr funktioniert. Jedenfalls aus Sicht meiner Trainer. Doch dass ich in Wiesbaden bislang nicht spiele, ist die kleinste Niederlage in meinem Leben. Ich habe hier wieder Freude am Fußball entdeckt. Unser Torwarttrainer, Steffen Vogler, sagte mir am Anfang, dass er mich nicht anhand meiner bisherigen Karriere bewerte, nicht anhand meiner Fehler, nicht anhand des Enke-Erbes. Das gab mir ein gutes Gefühl. Vielleicht ist diese Gelassenheit etwas Positives, was ich aus der ganzen Sache ziehe.
Natürlich macht es mich ein bisschen wehmütig, wenn ich sehe, wie meine ehemaligen U21-Mitspieler Manuel Neuer, Mesut Özil und Sami Khedira, mit denen ich 2009 Europameister wurde, nun die WM gewinnen – doch ich kann mich auch sehr für sie freuen. Wenn mein 20-jähriges Ich vor mir stünde, würde es mich nicht verstehen. Früher dachte ich: Zeig niemals Schwäche, sei nie zufrieden. Heute denke ich, dass ich einen Beruf ausübe, von dem ich immer geträumt habe. Das ist doch was Gutes.