Die Leistungen von Erling Haaland sind mehr als beeindruckend. Und sie führen den Bossen von RB Leipzig schmerzlich vor Augen: Ihr bisheriges Erfolgsmodell stößt an Grenzen.
Nein, mit dieser Entwicklung hatten sie nicht gerechnet – weder in Salzburg, noch beim „Schwesterklub“ in Leipzig. So schnell jedenfalls nicht. Innerhalb von nur wenigen Wochen ist das komplette Geschäftsmodell des RB-Fußballkonzerns ins Wanken geraten – diese „viel gerühmte, globalisierte Spieler-Transferplattform“, wie der britische Business-Analyst James Powell von der Londoner Agentur „Carteret Capital“ den Red-Bull-Verschiebe-Bahnhof gegenüber der BBC beschrieb: „Eine Pyramide von Schaufenstern.“
Vereinfacht ausgedrückt, sieht der RB-Businessplan Folgendes vor: Der Konzern beziehungsweise seine Farmteams (FC Liefering, RB Salzburg, RB New York, RB Brasilien …) kaufen weltweit herausragende Talente zu moderaten Preisen, entwickeln diese weiter und hieven sie gegen eine „interne Entschädigung“ an die Spitze der Pyramide – nach Leipzig. Dort sollen sie zunächst helfen, den sächsischen Retortenklub auf Topniveau zu stabilisieren. Später sollen sie gegebenenfalls gewinnbringend weiter transferiert werden, um die Leipziger Probleme mit dem Financial Fairplay (FFP) zu lindern.
So wie Mittelfeldmann Naby Keita (25) aus Guinea, der quasi eine RB-Bilderbuchkarriere hingelegt hat: im Jahr 2014 als 19-Jähriger für 1,5 Millionen Euro Ablöse vom französischen Zweitligisten FC Istres nach Salzburg gewechselt, als 21-Jähriger für gut 29 Millionen nach Leipzig weitergereicht, als 23-Jähriger schließlich für vertraglich festgeschriebene 60 Millionen an den FC Liverpool verkauft. Eine Win-Win-Win-Situation – vor allem für RB.
Doch die Pyramide ist akut einsturzgefährdet, denn die jüngsten Wintertransfers des norwegischen Wunderknaben Erling Haaland (19, für vergleichsweise läppische 20 Mio. Euro von Salzburg nach Dortmund) und des japanischen Offensiv-Allrounders Takumi Minamino (24, für geradezu billige 7,5 Mio. Euro von Salzburg nach Liverpool) haben der Welt zweierlei vor Augen geführt: Erstens, auf welch herausragendem Niveau der RB-Fußballkonzern inzwischen Talente scoutet und entwickelt. Zweitens, wie verwundbar die konzerninterne Lieferkette zwischen Salzburg und Leipzig ist – nämlich dann, wenn Europas Topklubs nicht mehr nur ins oberste Schaufenster blicken, sondern sich bereits aus den unteren Abteilungen der Pyramide bedienen.
Beides, die viel gerühmte Zuverlässigkeit der RB-Diamantenaugen und die Verwundbarkeit der Lieferkette, könnten die absoluten Branchenriesen in Zukunft noch häufiger für sich nutzen. Nachwachsende Salzburger Toptalente, wie der Ungar Dominik Szboszlai (19, Vertrag bis 2022), der Sambier Patson Daka (21), oder der deutsche Junioren-Nationalspieler Karim Adeyemi (18, beide Vertrag bis 2024), bewegen sich längst auf den Radarschirmen von Liverpool, Atlético, Man United und Chelsea. Adeyemi kokettierte bereits mehrfach öffentlich mit Klubs wie Dortmund oder Bayern.
So oder so: Der Riss in der RB-internen Lieferkette wird nicht mehr zu reparieren sein. Denn spätestens seit Jahresbeginn zeigt sich, dass Spieler wie Minamino und vor allem Haaland auch ohne den „Zwischenschritt Leipzig“ bei absoluten Topklubs funktionieren. Auch die Toptalente der Gegenwart begreifen diesen Trend als Chance und verlangen nach Ausstiegsklauseln, bevor sie in Salzburg unterzeichnen – so wie zuletzt Haaland, der im Sommer 2019 für fünf Millionen Euro von Molde FK aus Norwegen nach Österreich gewechselt war. „Ohne Klausel bekommt man keinen Spieler mehr“, klagte Salzburgs Sportdirektor Christoph Freund gerade in der Wiener Zeitung „Der Standard“: „Die Spirale hat sich nach oben gedreht.“
RB Salzburg und RB Leipzig drohen somit zum Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Jahrelang schrieb man ungestört Storys wie die von Peter Gulacsi, Marcel Sabitzer oder Dayot Upamecano, die allesamt in Salzburg vom Toptalent zum Topspieler veredelt wurden und dann in Leipzig aufschlugen. Solch ein Erfolgsmodell weckt Begehrlichkeiten. Deshalb lauern links und rechts des knapp 600 Kilometer langen Karrierepfads von Salzburg nach Leipzig immer mehr Wegelagerer, die ein Top-Produkt aus der RB-Schmiede lieber für 7,5 Millionen (Minamino) „stehlen“, anstatt es für 60 Millionen (Keita) ehrlich zu erwerben.
Bei RB Leipzig streute man eilig, Minamino sei ohnehin kein Kandidat für die deutsche RB-Filiale gewesen. „Hinteregger (wechselte 2016 als erster prominenter „Abweichler“ lieber zum FC Augsburg als zu RB Leipzig, was RB-Boss Ralf Rangnick toben ließ; die Redaktion), Mané, Schlager oder Lainer spielen bekanntlich auch nicht bei uns“, betonte RB-Leipzig-Boss Oliver Mintzlaff in einem Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ und kam dabei fast ein bisschen beleidigt rüber: „Die Spieler müssen selbst eine Entscheidung treffen, wer für sie infrage kommt, es gibt keine Knebelverträge.“ Dafür immer mehr Ausstiegsklauseln – und RB ist immer weniger Herr des Verfahrens.
Betrachtet man RB Salzburg als eigenständigen Klub, könnte es zumindest der österreichischen Konzernfiliale wurscht sein, an wen sie ihre Toptalente verhökert. So oder so fließen beträchtliche Transfererlöse. Sieht man die Salzburger jedoch als Farmteam für Leipzig, und das tun wohl die meisten Beobachter, könnte die alpenländische Dependance auf Dauer ihre Existenzberechtigung verlieren. Zumal die Einkaufspreise für neue, noch unbekannte Talente zuletzt rapide in die Höhe schnellten, wenn der Interessent RB Salzburg hieß: „Der Markt reagiert“, lässt Sportdirektor Freund durchblicken.
In Leipzig will man deshalb vermehrt andere Talentquellen anzapfen: RB-Chefstratege Ralf Rangnick, seines Zeichens „Head of Sport and Development Soccer“ beim Red-Bull-Konzern, trimmt gerade die Filialen in Brasilien (RB Bragantino) und New York sowie deren örtliche Zulieferer auf Linie. Aber: auch hier schaut die europäische Konkurrenz aufmerksam hin.