In der Nacht zum Donnerstag will Flamengo aus Rio de Janeiro Geschichte schreiben. Und mit dem ersten internationalen Titel seit fast zwei Jahrzehnten ganz nebenbei den Mythos des Maracana wieder auferstehen lassen.
Für die magische Nacht ist alles vorbereitet: Der Fußballtempel ist endlich wieder ausverkauft, das Maracana ist das, was es eigentlich schon lange nicht mehr war – die Bühne des großen brasilianischen Fußballs. Das Finalrückspiel der Copa Sudamericana zwischen dem „Clube de Regatas do Flamengo“, dem Regattaklub Flamengo aus Rio de Janeiro und dem argentinischen Club Atlético Independiente aus Buenos Aires, elektrisiert die Massen unter dem Zuckerhut. Kein anderer brasilianischer Klub hat so viele Fans wie Flamengo, mit keiner anderen Mannschaft fiebern so viele Kids in den Favelas der Millionenstädte mit wie mit der „Nacao Rubro-Negra“, der rot-schwarzen Nation, wie sich die Anhängerschaft in Anlehnung an die Klubfarben etwas überschwänglich selbst bezeichnet.
3:0 im Endspiel gegen Santos
So groß die Begeisterung sein kann, so erdrückend ist allerdings auch die Erwartungshaltung. Wie bei so vielen anderen Traditionsklubs lastet auch in Rio der Erfolg vergangener Jahrzehnte schwer auf dem Verein. Als Rio 1981 mit dem damals wohl weltbesten Mittelfeldspieler Zico im Weltpokalfinale den FC Liverpool mit 3:0 abfertigte, war der jetzige Innenverteidiger Juan gerade einmal zwei Jahre alt.
Im gleichen Jahr feierte Flamengo auch seinen bislang einzigen Copa-Libertadores-Titel, die südamerikanische Variante der Champions League. Es war die Zeit, als Flamengo die Massen ins Maracana lockte. Den 3:0‑Endspielsieg gegen FC Santos in der brasilianischen Meisterschaft 1983 sahen 155.000 Zuschauer im damals noch weiteren Rund der Arena im gleichnamigen Stadtteil. Danach sollte der Klub nie mehr an diese Klasse heranreichen.
Juan war immer dabei
Ansonsten stehen auf internationaler Ebene nur der Gewinn der eher zweitrangigen Copa de Oro 1996 sowie der Copa Mercosur 1999, dem Vorläufer der Copa Sudamericana, dem Gegenstück der Europa League in den Annalen des Klubs. Bei beiden Erfolgen war der damals bereits der blutjunge Juan im Kader, genauso wie beim vorerst letzten internationalen Finale Flamengos. Anschließend wechselte der Abwehrspieler zu Bayer Leverkusen nach Deutschland.
Inzwischen ist Juan 38 Jahre alt. In seinem Lebenslauf stehen nach seiner Ausbildung bei Flamengo die Stationen Leverkusen, AS Rom und Internacional Porto Alegre. Vor einem Jahr kehrte er zu seinem Jugendverein nach Rio zurück. Und wieder kann Juan Geschichte schreiben. Im Hinspiel gegen den argentinischen Traditionsverein, der immerhin Rekord-Copa-Libertadores-Sieger ist, gab es eine 1:2‑Niederlage. Ein Ergebnis, das mit den Fans im Rücken aufgeholt werden kann. Alle frei im Handel verfügbaren 52.000 Karten waren in Windeseile ausverkauft, die restlichen freien Plätze gehen an die rund 13.000 Klub-Teilhaber mit besonderen Ticketrechten. Eine solche Euphorie gab es um Flamengo schon lange nicht mehr. Flamengo-Trainer Reinaldo Rueda warnt seiner Spieler, sich von der Atmosphäre beeindrucken zu lassen: „Wir können nicht mit zehn Spielern angreifen. Wir müssen Ruhe bewahren und geduldig sein.“
Auch die Betreiber des Maracanas dürften die jüngste Entwicklung mit Erleichterung verfolgen. Die Stadionmiete ist durch einen Korruptionsskandal mit einer völlig überteuerten Renovierung für WM und Olympia nahezu unbezahlbar geworden, so dass Flamengo nur noch zu absoluten Top-Spielen in das einst so mythische Stadion umzieht. Ein Erfolg im Finale gegen die Argentinier könnte der Arena endlich wieder etwas von der Magie von vor der WM-Renovierung zurückgeben. Bis heute fremdeln die „Cariocas“, wie Rios Einwohner genannt werden, ein wenig mit dem Maracana. Der brasilianische Sieg im Olympia-Finale 2016 über Deutschland hat das Eis erstmals etwas brechen lassen, ein Finalsieg Flamengos würde die Akzeptanz der Arena in der Stadt deutlich erhöhen.
Auf dem Zahnfleisch ins Ziel
Sportlich wird das allerdings eine große Herausforderung. Flamengos kolumbianischer Trainer Rueda, der das dritte kontinentale Finale in Folge erreichte, hat seine Mannschaft auf dem Zahnfleisch ins Saisonfinale kriechen sehen. Erst mit einem verwandelten Elfmeter durch den Ex-Bremer Diego in der Nachspielzeit am letzten der 38 Spieltage gelang Flamengo ein 2:1‑Auswärtssieg bei Vitoria. Der war deshalb so wichtig, weil sich der Klub dadurch doch noch für die Copa Libertadores qualifizierte. Das sorgt für finanzielle Planungssicherheit. Und Flamengo profitierte ohnehin vom Copa-Libertadores-Gewinn durch Gremio Porto Alegre, ohne den Flamengo als Sechtsplazierter in die Play-Offs hätte gehen müssen.
Neben dem Verletzungspech platzte kurz vor dem Finale auch noch die Nachricht von der Dopingsperre von Paolo Guerrero in die Vorbereitung. All das aber hat Fans und Verein wieder etwas näher zusammengebracht. Denn Rueda machte aus der Not eine Tugend und baute Kräfte aus der eigenen Jugend in die Mannschaft ein. Die nicht ganz freiwillige Rückkehr zu den Wurzeln kommt bei den Fans gut an. Auch deshalb könnte ein Sieg im Finale eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft des schlafenden Riesen sein.
Eine einmalige Chance
Flamengos Kicker um Juan und den ehemaligen Bremer und Wolfsburger Diego haben eine einmalige Chance. Ein Finalsieg brächte ihnen einen Platz im vereinseigenen Museum, da dürften auch die Strapazen der vorangegangenen 82 Pflichtspiele im Kalenderjahr 2017 vergessen werden. Darauf hofft auch Supertalent Vincius Junior, das bereits an Real Madrid verkauft ist. Die Zeiten, dass Spieler wie Zico in Rio gehalten werden konnten, sind schon lange vorbei. Dass trotzdem noch internationale Titel möglich sind, dürfte dem zuletzt nicht klug gemanagten Klub dringend notwendige Stabilität verleihen.
Und um den Trainer zu halten: Nach Medienberichten aus Santiago steht Rueda ganz oben auf der Wunschliste des chilenischen Verbandes, um „La Roja“ um Arturo Vidal aus der Krise nach der verpassten WM-Qualifikation zu führen. Es geht deshalb am Mittwoch nicht nur um den ersten internationalen Titel seit fast zwei Jahrzehnten, es geht um die Zukunft des populärsten Klub Brasiliens.