Vergesst Boca und River, vergesst den Superclásico – wenn Atlanta auf Chacarita trifft, kommt es zum heißesten Derby in Argentinien. Die Geschichte einer besonderen Feindschaft.
„Wie meine Großeltern mir erzählten, musste Atlanta im Laufe der Jahre viele aggressive und antisemitische Anfeindungen über sich ergehen lassen“, sagt Testa. „Es gab einige Seifenfabriken im Viertel, und Chacarita-Fans setzten das in Verbindung mit dem Holocaust.“ In einem der Lieder, die man bei den Juniors nicht nur zum Derby singt, heißt es: „Hier kommt Chaca aus der Gasse, tötet Juden, um Seife zu machen.“ Wegen dieses Liedes wandten sich die jüdische Gemeinde und das Simon Wiesenthal Center an den Fußballverband AFA. Die Schiedsrichter wurden daraufhin angewiesen, Spiele bei diskriminierenden Gesängen zu unterbrechen. Nach einem 1:1 gegen Atlanta wurde Chacarita wegen der verbalen Ausfälle seiner Fans sogar zum Verlierer erklärt. Ein beispielloser Schritt der AFA, die zum ersten Mal einen Klub wegen der Gesänge seiner Fans mit einem Punktabzug bestrafte.
„Bei Auswärtsspielen wurde das Team manchmal damit begrüßt, dass gegnerische Fans Seife auf den Platz warfen“, sagt der bekannte argentinische Schauspieler und eingefleischte Atlanta-Fan Sebastian Wainraich. Er fährt fort: „Es gibt Lieder, in denen es ‚jüdischer Hurensohn‘ heißt und all das. Aber ich vermute, wären die Atlanta-Fans Gärtner, würden die Gegner Lieder gegen Gärtner singen. Fußballfans sind generell Dreckskerle – diskriminierend, misogyn, gewalttätig und homophob. Sie versuchen zu verletzten, wo immer es geht.“ Wie Wainraich erklärt, stimmen Atlanta-Fans, wenn es gegen Chacarita geht, selbst fremdenfeindliche Gesänge an, in denen ein sehr armes Nachbarland als Beleidigung dient: „Chaca, überleg nicht lange, geh zurück nach Bolivien, deine ganze Familie ist schon da.“
Während Nachtleben, Geschäftigkeit und hohe Gebäude Atlantas Viertel prägen, ist Chacaritas Bezirk das genaue Gegenteil davon: grau und eintönig, kaum Geschäfte, meist Wohnhäuser und Lagerhallen, die von dicken Gittern geschützt werden. Die Gangs, die hier ihr Unwesen treiben, handeln nicht nur mit Drogen, sondern haben ihre Hände bei vielen krummen Geschäften rund um Merchandise oder Ticketing im Spiel. La Famosa Banda, die Gang, die im Viertel und auf den Tribünen das Sagen hat, ist mittlerweile in zwei Lager gespalten, die beide von Frauen angeführt werden. Ihre Feindschaft ist so erbittert, dass Chacarita aus Angst vor Krawallen unter seinen eigenen Fans sein Auftaktspiel zur neuen Saison vor leeren Rängen austragen musste. „Auswärtsfans gibt es ja eh nicht mehr“, erklärt Juan Manuel Lugones, der Chef der Agentur zur Verhütung von Gewalt im Sport, diese Maßnahme. „Aber manchmal ist die Gefahr für normale Leute sogar noch größer, wenn zwei oder vielleicht auch drei Barras um die Vorherrschaft streiten, denn Vorherrschaft bedeutet lukrative Geschäfte.“
Wo Atlanta Nachbarschaft, Tradition, Religion und Tango pflegt, rühmt sich Chacarita, eine der gefürchtetsten Anhängerschaften in Argentinien zu haben. Im Laufe der Jahre handelte sich der Klub wegen dieser Barra Bravas zahllose Sperren und Strafen ein. Wenn es um berüchtigte Hooliganbanden geht, dann spielt Chacarita locker in der Champions League. Nicht von ungefähr haben sowohl Boca Juniors als auch River Plate Fangesänge über Chacarita, obwohl keinerlei sportliche Rivalität zwischen den Teams besteht. Was aber natürlich nicht heißt, dass alle Chacarita-Fans Schläger sind. Berühmtheit erlangten die Fans auch am 26. März 1994, als ihre Mannschaft die Ausweichtrikots vergessen hatte. Das Spiel gegen Almagro drohte auszufallen, da sammelten die Chacarita-Fans Trikots auf den Rängen ein. Als sie alle Rückennummern beisammen hatten, konnte das Spiel doch noch angepfiffen werden.
In Sachen Titeln haben allerdings beide Vereine nicht viel vorzuweisen. Chacarita holte 1969 die Torneo Metropolitano, die Meisterschaft des ersten Halbjahres. Atlanta gewann die nur ein einziges Mal ausgespielte Copa Suecia, einen Pokalwettbewerb, der während der WM 1958 ins Leben gerufen wurde und erst im April 1960 mit dem Finale endete. Ansonsten erarbeiteten sich die beiden Rivalen den Ruf, Fahrstuhlmannschaften zu sein, und verbrachten viele Jahre in der zweiten oder gar dritten Liga.
Deswegen wirkt Chacarita gegen Atlanta heute für manche wie ein aus der Zeit gefallenes Derby. Doch die Rivalität ist nach wie vor sehr lebendig. Wenn die Klubs aufeinandertreffen, dann geht es unweigerlich hoch her, wie etwa 1992 in San Martin. Auf den Tribünen schlugen die Chacarita-Fans die überforderte Polizei in die Flucht, vor dem Stadion gab es anschließend eine Schießerei. Im folgenden Jahr endete eine Partie mit einem 2:2, bei dem nach gleich vier Roten Karten am Schluss nur noch 18 Spieler auf dem Spielfeld standen. 1994 gab es erneut Krawalle. Zwei Jahre später versuchten Atlanta-Ultras, Chacarita vor dem Stadion in Villa Crespo in einen Hinterhalt zu locken. Die Schlacht fand 1997 eine Fortsetzung, als Steine, Ziegel und Raketen auf Busse und die Polizei geschleudert wurden. Es kam zu 57 Festnahmen.
„Mir ist die Vorstellung fremd, sein Leben völlig den Vereinsfarben unterzuordnen“, sagt Wainraich. „Das führt nur zu hässlichen, gewalttätigen Vorfällen. Es ist in Ordnung, sich zu freuen, wenn ein Rivale ein Spiel verliert, aber es so eskalieren zu lassen, das geht mir nicht in den Kopf. Ich gebe zu, dass ich auf der Tribüne viele Male gesungen habe: ‚Wir bringen euch um!‘ Aber das heißt ja nicht, dass ich es auch tun würde. Das gilt für die meisten Leute, aber leider gibt es ein paar unrühmliche Ausnahmen.“
Seit 2014 haben die beiden Rivalen nicht mehr gegeneinander gespielt, denn lange waren sie nicht auf demselben Level. Als die Chacarita-Anhänger im August 2017 den Heiligen Vater in Rom besuchten, machte jener nicht umsonst die Bemerkung, dass Atlanta mal wieder aufsteigen müsse, denn da kickten die Gelb-Blauen schon lange in der Primera B, der dritten Liga. Aber schon ein Jahr später ging es für Chacarita trotz des päpstlichen Segens wieder runter. Und vor ein paar Monaten schaffte Atlanta endlich den Sprung zurück in die Zweitklassigkeit. Das bedeutet, dass die großen Rivalen 2019/20 wieder auf Augenhöhe sind, in der Primera B Nacional. Doch zur großen Erleichterung der Polizei wurden die beiden Vereine, die einst bloß eine Mauer trennte, in zwei verschiedene Gruppen gesteckt: Atlanta spielt in der sogenannten Zona A, Chacarita in der Zona B. Es wird also wieder kein Derby geben. Es sei denn, beide Klubs erreichen die Aufstiegsrunde. Sollte das passieren, wird sich das wegen Sicherheitsbedenken in Madrid ausgetragene Finale der Copa Libertadores zwischen Boca Juniors und River Plate dagegen wie ein Kindergeburtstag unter Klosterschülern ausnehmen. Ein Finale um den Aufstieg zwischen Atlanta und Chacarita? Es wäre ein Spiel, das nicht friedlich enden kann. Falls es überhaupt endet.