Vergesst Boca und River, vergesst den Superclásico – wenn Atlanta auf Chacarita trifft, kommt es zum heißesten Derby in Argentinien. Die Geschichte einer besonderen Feindschaft.
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Vor zwei Jahren ging in Argentinien ein Video mit einem ungewöhnlichen Hauptdarsteller viral – Papst Franziskus. Im Film sieht man, wie das Oberhaupt der katholischen Kirche einigen Besuchern des Vatikans zuwinkt, die hinter einer Absperrung stehen. Plötzlich hört er einen ihm vertrauten Zungenschlag. „Eure Heiligkeit, wir kommen aus Argentinien“, ruft jemand. Der Papst tritt an die Absperrung und schüttelt drei Pilgern die Hände. „Wir sind Fans von Chacarita“, sagt einer von ihnen. „Wir sind gerade in die erste Liga aufgestiegen und erbitten euren Segen.“
„Na“, entgegnet Franziskus lächelnd. „Dann wird es jetzt aber Zeit, dass auch Atlanta aufsteigt.“
Der Papst, bekanntermaßen ein Fan von San Lorenzo, wuchs unweit von Villa Crespo auf, dem Viertel in Buenos Aires, in dem eine der größten Rivalitäten im argentinischen Fußball ihren Anfang nahm – das Derby zwischen Chacarita und Atlanta. Derart sprichwörtlich ist die Rivalität, dass es fast jedem Argentinier so geht wie dem Papst: Wer von dem einen Klub hört, denkt sofort an den anderen.
Dabei gab es nicht viele Derbys in letzter Zeit, denn die beiden Vereine spielten oft in verschiedenen Ligen. Eines der letzten Duelle endete im Jahr 2012 damit, dass zwei Streifenwagen und ein Bus der Gendarmerie ausbrannten, Familienangehörige und Vorstandsmitglieder von Atlanta auf der Tribüne angegriffen und mehr als zwanzig Personen verletzt wurden. Dabei fand das Spiel aus Sicherheitsgründen nur vor Chacarita-Fans statt! Dennoch waren über 500 Polizisten im Einsatz, die es einfach nicht schafften, die Situation unter Kontrolle zu halten, als Atlanta in der Nachspielzeit den Ausgleich zum 1:1 erzielte. Auf dem Rasen beschwerten sich die Chacarita-Spieler lautstark über Schiedsrichter Fernando Rapallini, der zwei Tore von ihnen nicht anerkannt hatte.
Dann brach das Chaos los: Chacarita-Fans stürmten den Platz und attackierten Ordner mit Stöcken und Metallstangen, um zu den Vorstandsmitgliedern und Angestellten von Atlanta vorzudringen. Als einige der Gäste zu entkommen versuchten, gerieten sie vor dem Stadion in einen Hinterhalt, es gab zahlreiche weitere Verletzte. Eines der Vorstandsmitglieder von Atlanta, Marcelo Santoro, wurde auf der Tribüne bewusstlos geschlagen, während vor dem Stadion die Streifenwagen der Polizei brannten.
In der Kabine eingeschlossen, fürchteten Schiedsrichter und Spieler um ihr Leben. „Es grenzte an ein Wunder, dass niemand starb. Es hätte leicht das blutigste Spiel im argentinischen Fußball in diesem Jahrhundert werden können“, sagte ein Berichterstatter des TV-Senders C5N. Obwohl sich keine Atlanta-Anhänger im Stadion befanden, war dieser Vorfall einer der Gründe, wegen denen Regierung und Verband beschlossen, Auswärtsfans im argentinischen Fußball grundsätzlich zu verbieten.
Um zu verstehen, warum dieses Derby zwischen zwei außerhalb von Argentinien kaum bekannten Klubs so brisant ist, muss man sich etwas auf der Avenida Corrientes umschauen, der großen Durchgangsstraße, die Villa Crespo durchtrennt. Hier findet man noch das alte Buenos Aires, mit seinen zahlreichen geschäftigen Cafés, Wandmalereien, Kopfsteinpflaster und Tango-Flair. Beide Vereine kommen von hier – bis 1944 waren ihre Stadien sogar nur durch eine Mauer getrennt. Atlanta ist noch immer überall präsent, die Vereinsfarben Gelb und Blau finden sich auf Straßenmalereien, gerahmten Trikots und den Titelseiten der Zeitschriften, die in den Bars ausliegen. Doch von Chacarita fehlt jede Spur. Sogar auf dem Schild der Bahnstation steht: „Villa Crespo (Ex Chacarita).“ Wie viele Derbys können von sich behaupten, dass einer der beiden Vereine den anderen aus seiner Heimat verdrängt hat?