Genialer Plan oder Millionengrab? Ein Dutzend Altstars aus Europa soll dem Fußball in Indien endlich zum Durchbruch verhelfen. Unsere Reportage aus 11FREUNDE #157.
Ein Cricket-Stadion im urbanen Nirgendwo der 20-Millionen-Stadt Mumbai: 33 Grad, die Luft feucht wie ein vollgesogener Schwamm, dicke Insekten, vom Flutlicht angelockt, schwirren durch die Luft. Die 90. Minute hat begonnen, der 37-jährige David Trezeguet schleppt sich schnaufend über den Platz, das Klima macht ihm schwer zu schaffen. Einen Fallrückzieher hat der französische Welt- und Europameister an die Latte gesetzt, aber ansonsten gegen Innenverteidiger Manuel Friedrich keinen Stich gemacht. Eben wurde Freddie Ljungberg eingewechselt, Nicolas Anelka sitzt gesperrt auf der Tribüne. Was nach europäischer Champions League vor zehn Jahren klingt, ist im Jahr 2014 Liga-Alltag in Indien.
Hero Indian Super League (ISL) – so nennt sich das Geschäftsprinzip, das ein wenig an die zarten Gehversuche der einst als Operettenliga gegeißelten Spielklasse in den USA Ende der Siebziger erinnert, als der Boss eines Unterhaltungskonzerns mit Stars wie Pelé und Franz Beckenbauer bei den New York Cosmos versuchte, Soccer in den USA populär zu machen. Ein eklatanter Unterschied aber ist, dass sich im Milliardenstaat Indien nicht nur ein oder zwei Klubs mit großen Namen aus Europa verstärkt haben, sondern Altstars paritätisch auf die komplette Liga verteilt spielen. Die große Fußballwelt ist endlich in Indien angekommen, so hoffen Fans und Initiatoren. Dass es eine etwas in die Jahre gekommene Fußballwelt ist, die es da auf den Subkontinent verschlagen hat, spielt dabei erst mal eine untergeordnete Rolle.
Mumbai gewinnt mit 5:0 gegen Pune. Trezeguet, glückloser Angreifer der Gäste aus Pune, ist bedient. Mit gesenktem Kopf stapft er in Richtung Mannschaftsbus. Auf den Rängen rasten Mumbai-Anhänger unterdessen aus, als ihre Helden die Ehrenrunde drehen. Rund 30 000 Tickets hatte der Mumbai City FC im Vorverkauf für das Spiel abgesetzt. Das Stadion ist ausverkauft, aber trotzdem längst nicht voll. Vor einer Brücke hat sich vor dem Spiel ein kilometerlanger Stau gebildet, viele Fans haben es nicht rechtzeitig in die Arena geschafft. „That’s India“, sagen sie hier.
Trotz seiner 1,2 Milliarden Einwohner hat es das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde bislang nicht vermocht, eine feste Größe im Weltfußball zu werden. Größtes Manko ist die professionelle Herangehensweise an den Sport. Die nationale Liga, die I‑League, dümpelt seit Jahren ohne große Beachtung vor sich hin, und die Nationalmannschaft steht auf Platz 159 der FIFA-Weltrangliste, hinter Malta und knapp vor Singapur. Dabei gibt es in Indien eine große Fußballbegeisterung. Oliver Kahn dürfte sich mit feuchten Augen an sein Abschiedsspiel 2009 erinnern, als er von 125 000 frenetischen Fans in Kalkutta in einer der größten Fußballarenen der Welt gefeiert wurde. Vor dem TV fiebern viele Millionen seit Jahren mit ihren Lieblingsteams aus England, Spanien, Deutschland oder Italien mit. Fußball ist gleich nach Cricket der zweitbeliebteste Sport im Land, und wer am Abend durch die Armenviertel von Chennai oder Delhi läuft, sieht Fußballspiele an jeder Ecke. „Man braucht ja nur einen Ball und ein paar Pullis als Torpfosten, dann kann man loslegen“, sagt Peter Reid, englischer Trainer von Mumbai City FC.
Nun also soll die ISL Abhilfe schaffen und den „schlafenden Riesen“, wie FIFA-Boss Blatter den indischen Fußball etwas plump bezeichnet, endlich zu internationalem Renommee verhelfen. Dass ausgerechnet ein paar abgehalfterte Superhelden einen Boom lostreten, der auch gewisse Nachhaltigkeit besitzt, scheint schwer vorstellbar, aber Indien liebt Heldengeschichten. Und was bei den „Expendables“ im Kino schon Sylvester Stallone, Antonio Banderas und Arnold Schwarzenegger gelang, können Freddie Ljungberg, Luis García und Manuel Friedrich doch schon lange. Oder?
Die Erwartungen an die Rentner-Band aus dem Westen sind riesig. Was war das für eine Begeisterung, als im September die Vorhut der Galaktischen anlandete: als Alessandro Del Piero, ewiger Juve-Held, inzwischen 40 Jahre alt und seit kurzem Kapitän der Delhi Dynamos, am Hauptstadt-Flughafen von aufgeregten Reportern empfangen wurde und eine Welle der Profi-Fußball-Euphorie durchs Land schwappte. Sogar das Mailänder Raubein Marco Materazzi, neuerdings Spielertrainer beim Chennaiyin FC, wurde in Bangalore von Heerscharen von Fans mit Blumenketten und Sprechchören begrüßt. TV-Aufnahmen aus jener Nacht beweisen, dass Materazzi damals sogar kurz gelächelt hat.