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Vorweg viel­leicht dies: Ich liebe die Ukraine. Ein biss­chen jeden­falls. Nach Kiew, in diese pul­sie­rende Metro­pole, würde ich jeder­zeit zurück­kehren. Nach Lwiw sowieso, wun­der­schöne klas­si­zis­ti­sche Bauten, prunk­volle Alleen, gut gelaunte Men­schen. Sogar Charkiw, tief im Osten des Landes, hat Charme. Eine Stadt wie ein sowje­ti­scher Schach­groß­meister: Geheim­nis­voll, nach­denk­lich, kantig.
 
Donezk ist anders. Donezk ist der End­gegner.
 
Ich kam einen Tag vor dem EM-Halb­fi­nale Spa­nien gegen Por­tugal an. Bis dahin hatte ich fünf Tage in Lwiw, zwei in Charkiw und die letzten zehn in Kiew ver­bracht. In Donezk sollte ich im Apart­ment eines Pfälzer Kol­legen unter­kommen, der für seinen Arbeit­geber bereits seit drei­ein­halb Wochen in der Stadt war, um über die fran­zö­si­sche Natio­nalelf und die K.o.-Spiele zu berichten.

Der Pfälzer aus dem Schacht
 
Der Pfälzer emp­fing mich mit einem Ham­burger Kol­legen in einem Restau­rant mitten in der Stadt. Er sah nicht gut aus. Er sah aus wie jemand, den man vor ziem­lich langer Zeit in den Schacht eines Berg­werks gesteckt hatte und der nun das erste Mal an die Ober­fläche gekro­chen war.
 
Tag!“, sagte ich, und der Pfälzer nickte. Dann erzählte ich von Kiew, von der Sonne und den alten Män­nern, die nach den Spielen in urigen Eck­kneipen saßen, Paprika-Wodka tranken und Wareniki-Teig­ta­schen mit Prei­sel­beeren aßen und von früher erzählten.
 
Hör auf!“, sagte der Pfälzer, und ich nickte. Wir tranken ein Bier. Dann noch eines. Irgend­wann setzten sich zwei Eng­länder zu uns. Sie erzählten einen Witz ohne Pointe, und der Pfälzer stöhnte. Wir ver­ließen das Restau­rant, über­querten die Straße, bogen nach rechts, dann nach links ab und legten uns im spär­lich ein­ge­rich­teten Apart­ment schlafen.

Du hast alles gesehen!“
 
Am nächsten Morgen fragte ich den Pfälzer, was man in Donezk gesehen haben sollte. Er lachte, höh­nisch, dre­ckig, und dann sagte er: Du hast alles gesehen!“ Dann ver­schwand er. Auf die Straße. Zum Sta­dion. In den Schacht. Wohin auch immer.
 
Also machte ich mich alleine auf den Weg. Ich wusste, dass Rinat Ach­metow in Donezk wohnt. Ach­metow ist der reichste Mann der Ukraine und Geld­geber von Schachtar Donezk. Er hat ein Ver­mögen von 16 Mil­li­arden Dollar und leitet ein undurch­sich­tiges Fir­men­la­by­rinth. 30, 40 oder 50 Unter­nehmen soll er besitzen. Für die Firmen ver­kauft er Stahl oder Kohle. Für Schachtar kauft er Bra­si­lianer.
 
Ach­metow hatte aller­dings keine Zeit, und so machte ich mich auf die Suche nach Sergej Bubka. Der ehe­ma­lige Stab­hoch­springer lebt eben­falls in Donezk und orga­ni­siert hier jedes Jahr im Februar einen Wett­be­werb mit den jeweils besten Stab­hoch­sprin­gern der Welt. Ich besuchte sein Denkmal. Eine Bronze-Statue im Leni-Rie­fen­stahl-Stil. Sie steht auf einem Sockel, der 6 Meter und 14 Zen­ti­meter hoch ist. Welt­re­kord­höhe.
 
Dann besuchte ich das Sta­dion des Fuß­ball­klubs Metalurh Donezk. Hier soll Ailton einst für ein paar Monate unter Ver­trag gestanden haben. Zwei Spiele, ein Tor, so steht es bei Wiki­pedia.

Das Sta­di­ontor stand offen, zwei Bau­ar­beiter trans­por­tierten Dinge mit Schub­karren, ein Mann lag auf der Treppe vor der Geschäfts­stelle. Die war geschlossen. Ich fragte also den Mann, ob er Ailton kenne. Er zuckte mit den Ach­seln. Dann sagte ich Metalurh“ und er streckte den Daumen nach oben. Wir guckten uns noch eine Weile an, dann merkten wir, dass das Gespräch beendet war.
 
Schließ­lich bog ein Mann um die Ecke, der ein biss­chen aussah wie ein ame­ri­ka­ni­scher Fit­ness­trainer. Ich konnte mir gut vor­stellen, dass er mit Ailton früher Sit-ups gemacht hat. Ich fragte ihn, ob er Ailton kenne. Doch er war leider kein Ame­ri­kaner, nicht mal Fit­ness­trainer, und des­wegen blieb auch dieses Mal nichts anderes übrig, als den Daumen zu heben. Zum Abschied sagte er: Russia!“, und ich sagte: Da!“

Ein Lachen aus 100 Metern unter Tage
 
Ich hatte mich ver­laufen und rief den Pfälzer an. Was nun?“, fragte ich. Er lachte wieder. Laut, röchelnd, depressiv. Ein Lachen aus 100 Metern unter Tage. Ich fuhr mit dem Taxi zurück in die Innen­stadt. Im Rei­se­führer las ich von drei wei­teren Attrak­tionen der Stadt: den 350 Meter hohen TV-Sen­de­mast und das Del­phi­na­rium. Das Beste ist aller­dings eine Straße, die von Norden nach Süden führt. Sie heißt Artema. Man kann aller­hand auf ihr machen. Zum Bei­spiel sie von Norden nach Süden abgehen und dann wieder umdrehen. Man kann auch ein­fach in der Gegend her­um­stehen und die nicht vor­han­denen Men­schen beob­achten. Irgendwo soll es eine Kneipe geben. Irgendwo auch ein zweites Café.

Danach Schweigen. Danach Artema. 
 
Am Abend traf ich den Pfälzer wieder. Er sah schlechter aus als am Morgen. Er hackte seinen Spiel­be­richt in den Laptop, den er für eine Schreib­ma­schine hielt. Er fluchte auf Donezk, die Ukraine, auf alles, dann schickte er den Bericht ab, und wir drückten uns mit sechs Mann in einen Twingo. Weil der Fahrer, Typ nor­we­gi­scher Wikinger, die Aus­fahrt nicht fand, fluchte der Pfälzer noch ein biss­chen mehr. Danach Schweigen. Danach Artema. 
 
Am nächsten Morgen ver­ließ der Pfälzer Donezk, er hatte seinen Auf­trag erfüllt. Ich blieb noch einige Stunden, denn meine Bahn fuhr erst am Abend. Ich ging noch einmal zur Bubka-Statue, und weil sonst nichts los war, holte ich meinen Zoll­stock heraus und maß den Sockel ab. Es sind nur 6 Meter und 13 Zen­ti­meter. Jemand sollte die Ver­ant­wort­li­chen darauf auf­merksam machen.