Alles schaut auf Eintracht Frankfurt. Recht so! Doch der Gegner ist mindestens genauso sehr ein wahrer Leckerbissen für Fußball-Romantiker. Warum der Pokal auch in Glasgow wunderbar aufgehoben wäre.
Hierzulande dürfte es kaum abwegig erscheinen, im Hinblick auf das heutige Finale der Europa League von großem Pech für die Rangers zu sprechen. Ein uralter Traditionsklub, auf europäischer Ebene ein Außenseiter, und doch stets von einem ganzen Heer frenetischer Anhänger bejubelt, ob auswärts oder daheim im Ibrox Park, der seinerseits mit jeder Betonritze Fußballgeschichte atmet. Solch ein Verein in einem Endspiel um den Europapokal – das hieße in jedem anderen Jahr: Alle Sympathien den Schotten!
Nun ist es aber kein Jahr wie jedes andere. Sondern jenes, in dem ausgerechnet Eintracht Frankfurt eine schlicht extraterrestrische Saison auf der internationalen Bühne hinlegt. Was die SGE und ihre Fans zwischen Piräus und Barcelona bereits für ein Märchen schrieben, hat allenthalben für Euphorie gesorgt. Verständlich, dass bei der Großartigkeit, die die Hessen sowohl für Fußball-Romantiker als auch für Laien verströmen, heute in ganz Schland überhaupt niemand auch nur ansatzweise die Notwendigkeit verspüren wird, den Rangers die Daumen zu drücken. Okay, von Offenbach mal abgesehen. Und von Kaiserslautern wohl auch.
Dabei gibt es so viele Gründe, auch im Falle eines Glasgower Sieges in Sevilla den Fußballsport dreimal hochleben zu lassen. Begonnen damit, dass der schottische Klub ein wahrer Methusalem ist: Vor sage und schreibe 150 Jahren – in Worten: einhundertundfünfzig – spielten die „Gers“ ihr erstes Fußballspiel. Eine Studententruppe bestritt die ersten Duelle auf der Wiese „Flesher’s Haugh“, die tatsächlich auch heute noch besteht und zum Fußballspielen genutzt wird. Im Gründungsjahr 1872 gab es nur zwei Matches, aber bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sie fünf nationale Titel eingeheimst. Zu dem Zeitpunkt war selbst Eintracht Frankfurt noch nicht einmal gegründet. Für die Rangers war es der Beginn einer bewegten Geschichte, die bis dato zahlreiche Höhe- und Tiefpunkte bereithielt. Viele von ihnen, nicht nur die Klubgründung vor genau anderthalb Jahrhunderten, jähren sich ausgerechnet jetzt.
Zur Kumulation der Jubiläen gehört auch der erste und bislang einzige Europapokalsieg, der Ende diesen Monats auf den Tag 50 Jahre zurückliegt. Im Camp Nou besiegten die Schotten damals Dynamo Moskau mit 3:2. Und die Analogien sind frappierend: Heute steigt das Finale für die Rangers wieder in Spanien, und wieder haben sie auf dem Weg dorthin im Halbfinale ein deutsches Team ausgeschaltet; seinerzeit war es Bayern München um Maier, Müller und Beckenbauer. Kurz vor dem Gewinn der Europameisterschaft setzte es für sie ein 0:2 im mit 80.000 Fans vollbesetzten, alten Ibrox. Großen fußballhistorischen Wert hat übrigens auch das Achtelfinale, das die Rangers in der Sieges-Saison spielten. Dort verloren sie nämlich im Elfmeterschießen gegen Sporting aus Lissabon und kamen doch noch weiter – erst später fiel dem Schiedsrichter auf, dass er aufgrund der kurz zuvor eingeführten Auswärtstorregel gar kein Elfmeterschießen hätte austragen lassen dürfen.
Ganz neutral betrachtet, so gut es eben geht, ist an der Romantik kein Vorbeikommen, die einem Europapokalsieg der Rangers innewohnen würde. Es wäre Geschichte, die sich wiederholt, und nach dem Triumph zum Hundertjährigen könnten die Rangers diesen bis heute größten Erfolg ausgerechnet am 150. Geburtstag wiederholen. Es wirkt schicksalhaft.
Schicksal auch, dass es wiederum genau zehn Jahre her ist, dass der Klub wegen eines Insolvenzverfahrens von den anderen Erstligavereinen aus der Scottish Premiership ausgeschlossen wurde und einen Neubeginn in der Viertklassigkeit starten musste. Aus dieser Zeit datiert der Weltrekord für das größte Publikum bei einem Viertligaspiel; auch in der sportlichen Bedeutungslosigkeit kamen regelmäßig an die 50.000 Menschen zu den Spielen. Es muss aber Erwähnung finden, dass der Rekordmeister, der heute bei 55 Erstliga-Titeln steht (auch das ist Weltrekord), wohl einige Extrawürste bekommen hat, als es 2012 zum Verfahren gegen die zahlungsunfähige Betreibergesellschaft kam. Eigentlich hätten die „Gers“ in der siebten und letzten Liga neu starten müssen, und auch bei der Auszahlung der Schulden soll recht kulant vorgegangen worden sein. Vor einer Erzählung à la „Phönix aus der Asche“ ist hier also etwas Vorsicht geboten.
Dennoch ist die Auferstehung im sportlichen Sinne gelungen. Noch 2014 verlor Glasgow das Finale eines Pokalwettbewerbs für die unteren Spielklassen gegen die No-Names der Raith Rovers; nur acht Jahre später fiebern sie in der größten Stadt Schottlands einem europäischen Finale entgegen. Als Kapitän geht einer voran, der den Leidensweg seines Klubs bestens kennt: James Tavernier war derjenige, der 2016 die vierjährige Unterhaus-Odyssee mit seinem goldenen Treffer zum Aufstieg in die Premiership beendete. Heute ist der Mann der erfolgreichste Glasgower Europa-League-Torschütze der zurückliegenden Saison. Vor dem großen Finale lässt er sich von der eigenen Vereinsseite ganz im Stile eines Führungsspielers zitieren: „Es bedeutet die Welt für mich. Ich wäre nicht hier ohne das großartige Team hinter mir und den Chef, der mich anweist.“ Gemeint ist Giovanni van Bronckhorst, der seit einem guten halben Jahr bei seinem Ex-Klub als Trainer die Geschicke verantwortet. Das Erreichen des Finals spricht Bände über seine Arbeit, und auch den heutigen Abend dürfte er ruhigen Blutes angehen. Er selbst hat schließlich nicht weniger als ein Weltmeisterschaft-Finale als Mannschaftskapitän erlebt. Er weiß, worauf es ankommt und hat das seinem Team längst vermittelt. „Die Spieler werden wissen, wie wichtig dieses Spiel ist, aber es ist immer gut, sie auf alles vorzubereiten, was kommen mag. Dennoch denke ich wirklich nicht, dass dieses Team noch mehr Motivation braucht, als die, die wir gerade fühlen.“
Sollte doch noch ein Prozentpunkt fehlen, er wird von den Tribünen kommen. Die Unterstützung ist ungebrochen. So viel Respekt wie der für den Frankfurter Anhang ist auch für die Fans der Rangers gebührlich: Die spanische Polizei rechnete vor dem heutigen Finaltag mit nicht weniger als 150.000 blau-weiß-roten Schlachtenbummlern in Sevilla. So viele Tausend Fans, wie Jahre in der Rangers-Geschichte. Es passt eben alles zusammen. Und ja, klar, schwarz und weiß wie Schnee… aber kein Freund des gepflegten Fußballsports wird sich den Hauch eines Lächelns verkneifen können, sollten die Glasgow Rangers heute siegreich sein.
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