Am 21. Oktober 2009 war es in der 19. Minuten wieder so weit. Er war zur Stelle, so wie er immer zur Stelle ist, wenn der große Wanderzirkus von Real Madrid auf Reisen geht. Dabei hatte schon niemand mehr mit ihm gerechnet. Madrids Esteban Granero hatte soeben ein flaues Schüsschen auf das Tor des AC Mailand abgegeben. Kein Problem für Milan-Torhüter Dida, alle drehten ab. Wirklich kein Problem? Doch, denn Dida ließ den Ball in seiner ihm eigenen Art auf seinen Oberschenkel prallen, tapste mit dem Geschick eines Tanzbären hinter der feuchten Kugel her und kam doch zu spät. Zu spät für ihn, Raúl González Blanco, el capitán – die Nummer 7 von Real Madrid.
Der Kapitän der Königlichen hatte am Strafraum gewartet, hellwach auf den Fehler von Dida gelauert und dann zugeschlagen. Der Treffer war das Champions-League-Tor Nummer 68 für den 1,81 Meter großen Angreifer – Rekord, ein Treffer für die Geschichtsbücher und Lohn für Raúl, der immer da ist für sein Real, wenn es ihn braucht.
Er hat sie alle Kommen und Gehen sehen, die Figos, Cannavaros, Zidanes und Beckhams, die den Königlichen den Beinamen „galaktisch“ einbrachten, aber schon an Irdischem scheiterten. Er hat sich jedes Jahr mit einem Konglomerat an neuen Weltklasse-Angreifern auseinander setzen müssen, ohne jemals gefährdet gewesen zu sein. Ronaldo, Robinho, Julio Baptista, Owen, Benzema: Namen von großem Klang, die meist so schnell vergingen, wie sie aufgetaucht waren. Nur einer tanzte immer weiter für das weiße Ballet: Raúl González Blanco, „El ángel de Madrid“, der Engel von Madrid – die Nummer Sieben.
Die unglaubliche Geschichte, die Raúl überhaupt erst zu Real führte, verleiht dem Mythos Raúl noch zusätzliche Kraft: Raúls Vater Don Pedro war großer Anhänger von Reals Lokalrivalen Atlético. Deswegen musste der kleine Raúl Gonzales in seiner Jugend die Stiefel für die Rojiblancos schnüren. Doch Anfang der Neunziger entschied sich Atléticos exzentrischer Präsident Jesus Gil y Gil, die komplette Jugendabteilung von Atlético aufzulösen. Raúl musste gehen und wechselte in der Saison 1992/93 als 15-Jähriger in die Jugend von Real Madrid. Sein Debüt bei den Profis gab er schon am 29. Oktober 1994 – mit 17 Jahren. Niemals zuvor gab es einen jüngeren Spieler in der ersten Mannschaft der Königlichen.
Der Geist von Real
Franz Beckenbauer sagte einmal, Raul verkörpere den Geist von Real Madrid, und schien damit ausnahmsweise zu untertreiben. Denn genau genommen ist Raul mehr als der Geist, er ist das Leben des Clubs, denn er lebt ein Leben für den Club: Seinen ersten Sohn Jorge benannte er nach dem argentinischen Weltmeister und heutigen Sportdirektor Madrids Jorge Valdano, der ihn 1994 als Real-Trainer aus der A‑Jugend direkt zu den Profis geholt hatte. Sein zweiter Sohn heißt Hugo, nach dem mexikanischen Ex-Real-Torjäger Hugo Sanchez. Und sein Nachname Blanco heißt übersetzt „Weiß“: die Farbe der Königlichen. Zudem schreibt er sich reihenweise in die Annalen des Haupstadtclubs ein. Am 15. Februar 2009 schoss er sein 308. Tor im Trikot der Königlichen und ist seitdem der erfolgreichste Torschütze in der Geschichte von Vereins. Damit versetzte er Reals Ausstellungsstück Nummer Eins, Alfredo di Stefano, auf den zweiten Platz der ewigen Bestenliste. Doch nicht nur deswegen ist er ein Liebling des Massen, sondern auch, weil sein Spiel die zur Hochmut neigenden Madrilenen immer wieder zu erden scheint. Raúl ist ein filigraner Kämpfer, einer, der keinen Ball verloren gibt und sich jedes Tor erarbeitet. Er ist trickreich und wendig, gleichzeitig aber auch robust und schussstark. Und doch hat sein Spiel in jeder Sekunde den Anschein des Erhabenen, der Größe, des Glanzes, jenen Attributen, die sich die Königlichen aus Madrid als Markenzeichen aufgedrückt haben. Raúl ist ein Stier – mit den Bewegungen einer Katze.
Doch 2011 soll Schluss sein für einen der größten Angreifer in der Geschichte von Real Madrid. Nicht wenige glauben, dass Raúl dann als Trainer in der Hauptstadt weitermachen könnte. Seine Rekorde werden noch lange Bestand haben, doch sein Trikot soll dann bereits ein Stück von Reals großer Geschichte sein. Denn die Verantwortlichen von Real haben entschieden, dass das weiße Stück Stoff mit der großen 7 auf dem Rücken nie wieder an einen Spieler in Madrid vergeben werden soll.