Das Lokalderby BSG Chemie gegen 1.FC Lokomotive Leipzig war als Krawallgipfel angekündigt worden. Aber war es auch einer?
Klaus Lisiewicz ist ein freundlicher Mann, dem man seine 73 Jahre nicht ansieht. Vielleicht lag es daher auch an seiner erstaunlichen Jugendlichkeit, dass er sich als einziger der Helden von einst nicht schrecken ließ von der „Panikmache“, wie er selber das nannte. Also hatte sich der ehemalige Stürmer der BSG Chemie Leipzig mit seiner Frau ins Auto gesetzt und war nach Leutzsch trotzdem zu einem Spiel gefahren, von dem man vorher hätte denken können, dass dort die Endschlacht zwischen Mordor und Mittelerde ausgetragen würde.
Chemie gegen den 1.FC Lokomotive Leipzig war für „BILD“ ein „Hass-Derby“, während die „Welt“ den „deutschen Hooligan-Gipfel“ erwartete. Man konnte schon verstehen, weshalb sich Lisiewicz bei seinem morgendlichen Rundruf von „den anderen Sportfreunden“ nur Abfuhren abholte. Zumal die markigen Ankündigungen wahrlich nicht nur Ausdruck hysterischer Medienberichterstattung waren. Drei Tage vor dem Derby etwa baumelten 30 Puppen mit dem Schriftzug „Chemie“ von Leipziger Brücken wie Erhängte. Vielleicht mochte auch deshalb keiner der anderen Herren mitkommen, die 1964 sensationell mit Chemie Leipzig DDR-Meister geworden waren. Doch dann kam es anders, als man hätte erwarten können.
Polizisten, Wasserwerfer, Panzerfahrzeuge
Der Weg zum Stadion war so gesichert, als wären Zehntausende zu kontrollieren. Das Viertel war abgeriegelt, Liesiwicz hatte sein Autokennzeichen angeben müssen, um durchfahren zu können. Die Gästefans mussten ausnahmslos von Loks Stadion in Bussen anreisen. An jeder Ecke standen Polizisten in Kampfmontur, ein Wasserwerfer war hinter der Gästekurve geparkt und gar ein Panzerwagen vorgefahren, um die gerade einmal 4.999 Zuschauer im ausverkauften Stadion zu überwachen. Grün-Weiß wurde von Blau-Gelb streng getrennt und die Eingangskontrollen waren so genau wie am Flughafen.
Rechts hinter dem Tor, am Zaun vor dem mächtigen Norddamm des Alfred-Kunze-Sportparks hängt eines der schönsten Fußballtransparente, das man in deutschen Stadien sehen kann. Die Ultra-Gruppe Diabolos hat es zu ihrem 15. Geburtstag von den Machern des Leipziger Kulturzentrums Conne Island geschenkt bekommen. Es zitiert einen Song von Tocotronic, bei dem man sich immer wundern konnte, dass es in den Stadien nie populär geworden ist: „Pure Vernunft darf niemals siegen.“
Beide Klubs haben eigentlich noch nie gegeneinander gespielt
Und natürlich hatte es mit Vernunft wenig zu tun, dass um diese Pokalpartie eines Fünft- gegen einen Viertligisten so ein Geschrei gemacht wurde und der Kick so einen Aufwand produzierte. Überhaupt gab es gerade im Leipziger Fußball der letzten Jahrzehnte so einen gewaltigen Überschuss an Unvernunft, dass man sogar genau überlegen musste, wann es das Derby zwischen Chemie und Lok Leipzig überhaupt das letzte Mal im Alfred-Kunze-Sportpark gegeben hatte. Einige verwiesen auf das Jahr 2002, Puristen sagten seit 31 Jahren, und wer ganz streng sein wollte, musste zu dem Schluss kommen, dass die beiden Klubs eigentlich noch nie gegeneinander gespielt hatten.