„Vitali, Vitali“, fordern vereinzelte Stimmen aus der Kurve, schnell schwillt der Ruf zum Chor an. „Vitali, Vitali“, immer wieder. Es läuft die 27. Minute am vorletzten Spieltag der Regionalliga Nord. Im faden Sommerkick zwischen Preußen Münster und dem SC Verl passiert nicht viel. Vitali Eckermann weiß, was zu tun ist. Mit dem linken Arm greift er ans Rad, an den Preußenadler, eine schnelle Bewegung dreht seinen Rollstuhl um 180 Grad, er guckt jetzt in die „Curva Monasteria“, zu seiner Ultragruppe. Der 32-Jährige saugt Luft in die Lungen, legt den Kopf weit in den Nacken, die Finger ballen sich zur Faust. Die Ruhe vor dem Schrei. „Preuuuuuußen“, explodiert er wie ein Vulkan. Die Hand sticht in die Luft, unter dem schwarzen T‑Shirt vibriert der ganze Körper, die Anstrengung färbt den Kopf rot. Urgewaltig kratzt sich die Stimme durch den Wechselgesang, fest noch beim ersten Mal, rau wie Schmirgelpapier im sechsten Anlauf. „Müüüüüünster“, kehlt der Anhang unisono zurück, auch Sitzblock A und Stehrang N machen mit. Klatschende Hände entlassen Eckermann schließlich in eine Verschnaufpause. Er lächelt, winkt der Menge und widmet sich dann wieder dem Geschehen auf dem Rasen.
Vitali Eckermann ist Kult, selbst in Zeiten, da dieser Stempel inflationär verteilt wird. Der Hype entspinnt sich in erster Linie um seine gewaltige Stimme. Dass der Anheizer im Rollstuhl sitzt, will er nicht als Faszinosum beschrieben wissen – allenfalls als besondere Konstellation: Der Support entsteht nicht aus dem Block heraus, sondern als Zusammenspiel zwischen dem Mann vor und den Fans hinter dem Zaun. Weil das Preußenstadion keine moderne Arena ist, sondern eine offene Anlage alter Schule, besteht die Gefahr, ungehört zu verhallen. Vitali Eckermann aber wird nicht nur gehört, er braucht dafür noch nicht mal technische Verstärkung. Als ihm Präsident Marco de Angelis einst ein Megafon anbot, lehnte der Edelfan empört ab. Das könne ja jeder.
Woher kommt die Stimmgewalt? „Von da oben“
Eckermann schwimmt gerne gegen den Strom, auch deshalb gibt es seinen Schlachtruf nur dosiert. Wider den monotonen Dauergesang, „am liebsten, wenn noch kein Tor gefallen ist“. Wachrütteln wolle er mit seinem donnernden Organ, anschieben. Woher kommt die Stimmgewalt? „Von hier“, der Westbeverner streichelt sich über den Kehlkopf. „Und von da oben“ – mit langem Finger zeigt Vitali Eckermann in den Münsteraner Himmel, der sehr blau ist und sonnig. Gunst von oben hatte das Team von Marc Fascher nicht nötig in diesem Jahr: Vorzeitig stieg der Traditionsverein in die Dritte Liga auf. Bald darf Eckermann gegen Erfurt, Offenbach und Koblenz auf den Platz an der Eckfahne vorfahren und die Stimmbänder schinden.
Dabei ist Preußen Münster nur Liebe auf den zweiten Blick. Als der Russlanddeutsche 1994 mit seinen Eltern nach Westfalen zieht, schlägt sein Herz für Borussia Dortmund. Drei Jahre später absolviert dann Christopher Jürgens, damals Torwart der Preußen, seinen Zivildienst in der Behindertenwerkstatt von Eckermann und überzeugt den, doch mal an die Hammer Straße zu kommen. Der erste Besuch fällt mit einem Freundschaftsspiel gegen, wie sollte es anders sein, den BVB zusammen. Die Partie verändert Eckermann. Als Borusse hingefahren, rollt er als Preuße nach Hause. Eine Stimmung zwischen Sympathie und Mitleid nimmt ihn an jenem Abend gefangen für den Regionallisten, der 1:4 untergeht.
Als Langeweile droht, fleht ein Kumpel: „Vitali, tu doch was!“
Sein Zimmer versinkt fortan in den Vereinsfarben, Schwarz-Weiß-Grün, und er reist auch zu Auswärtsspielen. 2001, vier Jahre nach dem Erweckungserlebnis, tritt Preußen Münster im Westfalenpokal bei den Sportfreunden Lotte an, die Partie ist sehr verkrampft. Ein Kumpel fleht Eckermann an, der Langeweile ein Ende zu bereiten, „Vitali, tu doch was“, greint er verzweifelt. Der Rollstuhlfahrer dreht sich spontan zur Kurve und stimmt an. Ein surrealer Moment. Die 500 mitgereisten Münsteraner wissen erst nicht, wie sie reagieren sollen. Stimmung? Hier? Jetzt? Verwirrt blicken sie einander an, dann auf diesen Derwisch da unten, der so laut krakeelt, dass sogar die Lotter Anhänger von der anderen Seite neugierig herüberspähen. Es sind lange Sekunden, aber dann, endlich, stimmt die kleine Menge ein, erst zaghaft, später entschlossen, fast in trotziger Absicht, den Grottenkick vergessen zu machen. Der Wechselgesang ist geboren und hält sich bis heute. „Der Verein ist meine große Liebe“, sagt Vitali Eckermann und rückt die Nickelbrille zurecht. „Ich werde Preußen nie allein lassen.“
Wer ihn am Spielfeldrand beobachtet, ist versucht, die sentimentalen Worte zu glauben. Jeden Gesang der Ultras murmelt er mit, klatscht, poltert, stemmt sich bei Torszenen aus dem Rollstuhl. Am Ende verliert Münster mit 0:1, gefeiert wird trotzdem. Die Spieler fordern Eckermann im Anstoßkreis. „Preuuuuußen“, brüllt er über die Weite des Rasens. „Müüüüünster“, echot das ganze Stadion. Alle Tribünen haben sie gehört, diese Stimme, die lauter ist als jedes Megafon.