Wenn sich der Coach der E‑Jugend morgens mit Fieber abmeldet, muss ein Vater als Aushilfstrainer ran. Ein Erfahrungsbericht von der Seitenlinie.
Ich hätte das Telefon klingeln lassen sollen. Anrufe am Samstagmorgen um halb acht haben selten etwas Gutes zu bedeuten. Mal geht es der Oma schlecht, mal ist das Auto auf dem Weg zur rumänischen Grenze. In diesem Fall war jedoch der Trainer meines Sohnes in der E‑Jugend dran und röchelte so erbarmungswürdig in die Muschel, als wäre es nur noch eine Frage von Stunden, bis ihn eine akute Tuberkulose dahinraffen würde.
Die Nachricht vom Totenbett: Er falle krankheitsbedingt aus, ob ich nicht die Mannschaft zum Auswärtsspiel begleiten könne. Allein um den letzten Willen des Coachs zu erfüllen, sagte ich spontan zu. Außerdem war ich natürlich geschmeichelt, dass die Wahl als Aushilfscoach auf mich gefallen war.
„Hau ihn doch einfach mal um“
Das war nicht unbedingt zwangsläufig gewesen, als Vater war ich nämlich am Platz zuvor eher unangenehm aufgefallen. Dass es seit Neuestem eine Art Sperrzone für Eltern rund um den Platz gab, war womöglich meinen Auftritten bei den letzten Heimspielen zu verdanken. Da hatte ich nämlich zunächst unseren korpulenten Linksverteidiger dezent zu einem taktischen Foul aufgefordert, nachdem ihm der wieselflinke Außenstürmer des Gegners wieder einmal entwischt war. Sicher, ich hätte das ein wenig feiner formulieren können als „Hau ihn doch mal um!“, aber alle wussten ja ungefähr, was gemeint war. Später gab es dann noch mal Ärger, weil ich lauthals den Einsatz von Eisspray empfohlen hatte, als sich der Gegenspieler meines Sohnes am Boden wälzte. Die Platzwunde war aber von meinem Standort aus nicht genau zu erkennen gewesen.
Nun also Trainer statt Vater. Vielleicht kam mein Engagement genau zur richtigen Zeit. Der etatmäßige Coach war ja ein verständnisvoller Pädagoge, der auch bei Niederlagen tröstende Worte für die Jungs fand. Brachte ja nichts, die Mannschaft noch weiter zu verunsichern. Und die Jungs sollten ja Spaß am Fußball haben. Nie entfuhr ihm ein böses Wort über den Schiedsrichter und selbst, wenn die Mannschaft wieder einmal glasklare Chancen im Dutzend versemmelte, blieb der Trainer gelassen und munterte die Mannschaft unverdrossen auf. Mit anderen Worten, er hatte längst die Kontrolle über die Truppe verloren.
Eine Mischung aus Tuchel und Neururer
Ich hingegen sah mich ja als Laptop-Trainer mit Herz, als perfekte Mischung aus Peter Neururer und Thomas Tuchel. Ich würde am Samstag modernsten Ballbesitzfußball mit der guten alten Manndeckung versöhnen. Sofern die Spieler mein ambitioniertes Fusionskonzept rasch adaptierten.
Überhaupt würde an diesem Samstag alles anders sein. Das laxe Rumgekicke würde ein Ende haben. Es musste wieder Zug rein. Noch mal alles raushauen! Bill Shanklys einschlägige Bemerkung, Fußball sei keine Sache auf Leben und Tod, sondern weitaus ernster, galt bei diesem Spiel vollumfänglich. Und da war es auch völlig egal, dass es in diesem letzten Spiel vor der Sommerpause zwischen zwei 5. E‑Jugenden nicht einmal mehr um den Tabellenplatz ging. Ein Auswärtssieg würde mir die Aura eines Erfolgscoaches geben. Ehrerbietig würden mich die anderen Väter am Sportplatz grüßen, der dereinst sicher nach mir benannt würde.
Also würde ich die Mannschaft optimal aufs Spiel vorbereiten. Es ging allerdings zu einem durchaus renommierten Klub im Berliner Osten, der sich einiges auf seine acht oder zehn DDR-Meisterschaften einbilden konnte. Mehr soll über den Verein aber nicht erzählt werden, sonst wäre der BFC Dynamo allzu leicht zu identifizieren.
Wir trafen uns am heimischen Sportplatz, und ich versuchte mir einen Überblick über das Spielerpersonal zu verschaffen. Schnell begriff ich, dass es im Spiel nur darum gehen konnte, möglichst lange ein torloses Unentschieden zu halten. Das Gros der Belegschaft hielt nach wie vor die Fußspitze für die geeignetste Form, den Ball zu schießen. Und vor allem in der Abwehr ging es drunter und drüber. Links verteidigte der schon erwähnte kompakte Knirps, der schon nach drei Minuten mit hochrotem Kopf vor sich hinschnaufte. Und da saß er noch in der Kabine.
Rechts daneben werkelte ein hochgeschossener Lulatsch, der so unsicher über den Platz stakste, als habe er gerade erst das Laufen gelernt. Unsere Bohnenstange hatte trotz seiner langen Beine den gemächlichen Antritt einer Wanderdüne. Bis der sich mal in Bewegung gesetzt hatte, saß der Rest der Truppe im Sportlerheim beim Abendessen. Vorne sah es nicht viel besser aus, der Sturm bestand aus einem kurzsichtigen Dreikäsehoch, der es fertigbrachte, vor Eckbällen stets ausgiebig seine Brille zu putzen, und einem Fummelkönig, dem es offenbar aus religiösen Gründen untersagt war, den Ball auch mal abzuspielen. Stattdessen verstrickte er sich in tollkühne Dribblings, um danach nahezu wehrlos den Ball zu verlieren und völlig entkräftet auf den Rasen zu sinken.
„Zyklop Inkasso“ als Sponsor
Im Osten angekommen, betraten wir die ausgedehnte Sportanlage des Klubs, wo bereits reges Treiben herrschte. Die gegnerische Mannschaft war bereits vollständig versammelt. Sehr viele Dustins und Steffens, auch wurde hier das Kinderhaar offenbar flächendeckend mit dem Handrasierer geschnitten. Dafür hatte es gerade einen neuen Trikotsatz gegeben. Der Sponsor war jedenfalls schon mal klasse. Es warb der sympathische Geldeintreiber „Zyklop Inkasso“ mit dem ebenso formidablen Werbespruch: „Wir können kein Auge mehr zudrücken!“ Da musste man auch erst mal drauf kommen.
Wir bekamen unseren Kabinenschlüssel in die Hand gedrückt und ich machte mich seelisch bereit für meine erste flammende Kabinenansprache. Dafür musste ich mir allerdings erst noch einmal die Namen der Jungsdraufschaffen. Beim eigenen Sohn war ich mir einigermaßen sicher, aber hieß der lange Lulatsch neben ihm nun Konstantin oder Georg? Und der kastenförmige Junge mit dem Bürstenhaarschnitt? Leon oder Lukas?
Wo sind die Pässe?
Egal, die Mannschaft war ja der Star. Es sollte ungefähr so laufen wie in „Die Bären sind los“, wo Walter Matthau als Morris Buttermaker eine Gruppe krummbeiniger und kurzsichtiger Außenseiter ins Baseballfinale führt. Against all odds! Deshalb würde ich die Truppe nun bis in die Haarspitzen motivieren, jeden Einzelnen eindringlich fixieren und ihm eine persönliche Botschaft mitgeben. Ich holte tief Luft, um dem Team mal so richtig Feuer unterm … da klopfte es an die Kabinentür und der Schiedsrichter lugte herein. „Denken Sie an die Spielerpässe? Ich warte!“ Ach, richtig, ich hatte vom Jugendobmann die Spielerpässe mit auf den Weg bekommen.
Als ich die Mappe durchblätterte, war ich doch einigermaßen beeindruckt. Alles sauber und ordentlich ausgefüllt, sogar die Geburtsdaten stimmten. Das kannte ich aus meiner Jugend anders. Damals wurden Spielerpässe fröhlich zwischen den Altersstufen durchgereicht. In der Mappe unserer C‑Jugend-Mannschaft fand sich damals der vergilbte Pass eines schüchternen Jungen, von dem ich sicher wusste, dass er letztes Jahr geheiratet hatte. Ein anderer hatte ein derartiges Allerweltsgesicht, dass er über viele Jahre stets herangezogen wurde, wenn bei einem anderen Kicker der Pass fehlte.
Ich trug die Aufstellung hinüber zum Schiedsrichter. Derweil rannte die Mannschaft hochmotiviert aufs Feld, die Spieler klatschten sich ab und schworen sich im Kreis aufs Spiel ein. Das Team brannte lichterloh. Also jetzt nicht unseres, sondern das des Gegners. Mein Team bedurfte erst einmal einer freundlichen Ermahnung des Schiedsrichters, bevor es gemächlich und portionsweise aufs Spielfeld schlurfte.
Beim Gegner war eine halbe Hundertschaft Eltern erschienen, es herrschte heitere Stimmung, Kaffee wurde aus Thermoskannen ausgeschenkt, und das Mannschaftsmaskottchen, ein riesiger Plüschbär, hinter dem Tor platziert. Eine Mutter trug ein bedrucktes T‑Shirt: „Andere wählen sich ihren Lieblingsspieler. Ich habe meinen geboren!“ Ich konnte nur mühsam den Brechreiz unterdrücken. Aber vielleicht war es auch nur der pure Neid. Denn außer mir waren von unserem Verein nur noch zwei weitere Väter anwesend, einer davon ein starker Raucher, der sichtbar unter dem Qualmverbot auf dem Sportplatz litt und nervös auf und ab tippelte.
Der andere war von Woche zu Woche erstaunter, dass noch kein Talentscout eines ambitionierten Bundesligisten angerufen hatte, um seinen Sohn zu sichten. Die Enttäuschung über die stockende Karriere seines Sohnes kompensierte er dadurch, dass er nach jedem zweiten Spiel seinen Filius zusammenfaltete, wenn der weniger als drei Buden gemacht hatte: „So macht das keinen Sinn, Junge!“
Beide fingen, kaum hatte das Spiel begonnen, sofort an, wüste Kommandos aufs Feld zu krakeelen. Normalerweise wäre ich ja sofort in den Klagechor der Väter über vergurkte Zuspiele und verpasste Chancen eingefallen, nun aber nervte mich das Gebrülle kolossal. Ich gab stattdessen den abgeklärten Fachmann. Die Väter wussten es ja nicht besser. Ich dagegen blickte analytisch aufs Feld. Wo andere Spieler sahen, sah ich taktische Formationen. Beziehungsweise, auf dem Kleinfeld vor mir, keine taktische Formation.
Unsere Abwehr im Augenthaler-Modus
Es wurde nämlich die erwartete Abwehrschlacht. Unsere Truppe holzte von der ersten Minute mit dem Mute der Verzweiflung jeden Ball weg, der angeflogen kam. In Schildkrötenformation verschanzte sich das Team in Strafraumnähe und trat vorsichtshalber auf alles, was sich bewegte. Zweimal wälzte sich ein junger Dynamo-Stürmer am Boden, weil er von unserer Abwehr in Augenthaler-Manier kompromisslos abgeräumt worden war. Als Vater hätte ich dem Burschen gleich mal eine reingereicht („Sind hier nicht am Burgtheater!“), als Trainer gab ich mich kameradschaftlich („Entschuldige dich, Konstantin!“).
Ende der ersten Hälfte erlahmten langsam die Kräfte unserer Truppe. Jetzt war Frontbegradigung angesagt. „Wo ist dein Mann, Lukas?“, brüllte ich aufs Spielfeld. Eine spannende, gleichwohl rhetorische Frage. Lukas’ Mann wetzte nämlich gerade auf unser Tor zu. Uff, knapp daneben! Dem Rauchervater fiel vor Schreck die Ernte-23-Zigarette runter, die er heimlich in der Handhöhle geraucht hatte. „Verschieben“, rief ich aufs Spielfeld. Das sagten sie im Fernsehen auch immer. Ratlose Blicke bei meinen Spielern. Dann eben nicht.
AN-TI-ZI-PIE-REN!
Ich hatte mich immer noch verständlicher ausgedrückt als der E‑Jugend-Coach, der neulich einen seiner Schützlinge mit einem Nasenabstand von etwa fünf Zentimetern anbrüllte: „Was haben wir besprochen? Du solltest antizipieren! AN-TI-ZI-PIE-REN!“ Aber ich lernte schnell und verlegte mich auf simple Zweiwortansagen: „Einfache Bälle!“ und gerne auch „Klarer Elfer!“, nachdem unser Stürmer unweit des Strafraums auf seine Schnürsenkel getreten war.
Kurz vor Schluss stand es immer noch 0:0. Was auch daran lag, dass sich aus dem gegnerischen Team auch niemand für die Kreisauswahl aufdrängte. Als ein X‑beiniger Verteidiger zum wiederholten Mal am Ball vorbeisenste, rief eine Mutti aufmunternd hinein: „Das kannst du besser!“ Eine klare Notlüge. In der Nachspielzeit segelte noch mal ein Querschläger in den Strafraum des Gegners. Wildes Getümmel, ein Knäuel von jungen Spielern trat wüst gegen den Ball. Und ohne dass es von irgendjemandem beabsichtigt gewesen wäre, rutschte der Ball auf kuriose Weise ins Tor. 1:0 für uns, auswärts, beim haushohen Favoriten. Die Jungs umarmten sich überglücklich.
Und ich? Klar, ich habe mich schon gefreut. Der Treffer machte mich schließlich zum Erfolgstrainer. Unter meiner Leitung hat die Truppe nie verloren. Aber dass ich mich nach dem Tor triumphierend vor dem Maskottchen des Gegners aufgebaut und mehrfach die Beckerfaust gemacht haben soll, entspricht so nicht der Wahrheit. Zumindest gibt es davon keine Fotos.