Wütende Fans von Manchester United sorgen für eine Absage des Spiels gegen Liverpool. Ex-Spieler, Journalisten und Politiker reagieren überraschend: mit Verständnis für den Zorn.
Spielabsage, Festnahmen, Pyrotechnik, Verletzungen, Platzsturm – normalerweise wäre der Aufschrei groß gewesen und die Schlagzeilen vorgedruckt: Eine neue Welle der Gewalt? Die Rückkehr der Hooligans? Eine Bedrohung der Fußballer? In England geschah am Sonntag allerdings etwas Bemerkenswertes: TV-Experten, Ex-Spieler, Journalisten und Politiker begegneten den Vorfällen differenziert.
Manchesters Bürgermeister verurteilte die Gewalt, sagte aber: „Das könnte der richtige Moment sein, um den Fußball zum Besseren zu verändern.“ Premierminister Boris Johnson kritisierte Ausschreitungen, äußerte aber ebenfalls, dass er die Anliegen der Fans nach den Super League-Plänen verstehe. Man Uniteds Legende Roy Keane sagte bei „Sky“: „Es sind immer ein paar Idioten dabei, aber viel wichtiger: Die Fans stehen für ihren Klub auf und erheben ihre Stimme.“ Keane konnte sich sogar den Scherz nicht verkneifen, dass die Pyrofackel und die Dosen ja nur in Richtung von Jamie Carragher geworfen worden seien – eben jener Liverpooler Legende, die im Stadion des Rivalen das Spiel analysieren sollte.
„Alle Fußballfans sollten sich hinter Uniteds Fans versammeln“
Carragher redete sich sogleich in Rage, um Manchesters Fans zu verteidigen: „Ich habe es schon als kleiner Junge erlebt, dass wegen ein paar Idioten alle Fans kriminalisiert und zu Tieren erklärt werden. Die überwiegende Mehrheit hat hier friedlich protestiert, weil sie sauer darauf ist, wie ihr Klub zerstört wird. Ihr Anliegen darf jetzt nicht in den Hintergrund rücken.“ Neben ihm hielt Ex-United-Spieler Gary Neville dann fast schon eine pastorale Rede: „Heute herrscht Zorn, aber ich hoffe, dass es morgen umschlägt in Mobilisierung, Reform und Regulierung. Alle Fußballfans sollten sich hinter Uniteds Fans versammeln.“ Als Moderator Dave Jones spöttisch fragte, ob nun alle Fans für Spielabsagen sorgen sollten, kanzelte ihn Neville mit den Worten ab: „Lass mich ausreden. Jetzt ist nicht die Zeit für Unterbrechungen.“
Neville machte in der Folge auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Die „Super League“ war nicht der erste Plan von gierigen Klubbesitzern im Corona-Jahr. Unter dem Titel „Big Picture“ hatten die großen Vereine unlängst eine Ligenreform initiiert, mit der sie ihre Stimmrechte erweitern wollten. Das Projekt wurde allerdings von den anderen Vereinen abgeschmettert. Evertons Vorsitzende Denise Barrett-Baxendale soll gar eine Entschuldigung der treibenden Kräfte aus Liverpool und Manchester verlangt haben. Dabei hätte ihr Klub vom „Big Picture“ profitiert. Neben diesen Projekten stießen die englischen Vereine außerdem Extrazahlungen fürs Pay-TV an oder beantragten Corona-Hilfen vom Staat, obwohl sie gleichzeitig Rekordumsätze vermeldeten. Die Entfremdung zwischen Vereinen und Fans wuchs genau zu der Zeit, als die Fans sich nicht im Stadion dazu äußern konnten.
Bei all den kruden Plänen regte sich ihr Widerstand vor allem in den sozialen Netzwerken. Nach den Meldungen über die „Super League“ und den Vorfällen vom Sonntag scheinen die Fanthemen nun in einer breiteren Öffentlichkeit behandelt zu werden. Der Aufruhr brachte die Auseinandersetzung (mit den Anliegen). Auch das erscheint als eine kuriose Volte der vergangenen Wochen. Joe Smith, ein United-Fan, der am Sonntag friedlich vor dem Stadion protestiert hatte, sagte der BBC: „Ich will weiß Gott nicht, dass jemand verletzt wird. Wir alle wollen einen friedlichen Protest. Aber in den vergangenen Jahren haben wir erlebt, dass bei einem friedlichen Protest niemand auch nur eine Augenbraue hebt.“ Das scheint nun anders zu sein.