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Dort, wo sie Sou­ley­mane Cherif vor über 50 Jahren ent­deckten, in der Spon­holzer Straße in Neu­bran­den­burg, sitzen zwei Bau­ar­beiter an einer Bus­hal­te­stelle und machen Mit­tags­pause. Die Sonne knallt auf die grauen, ris­sigen Fas­saden und ange­gilbten Mar­kisen der Plat­ten­bauten. Es gibt Bock­wurst mit Senf, dazu Dosen­bier. Ein recht nor­maler Dienstag Mitte Juli 2016 in Neu­bran­den­burg.

Wann der Bus zurück ins Zen­trum fährt, möchte man wissen. Ist gerade weg!“ – Tja. – Muss ja.“ – Kennen Sie Sou­ley­mane Cherif? – Suleim­an­watt?“ – SC Neu­bran­den­burg, Stürmer, guter Mann. – Nie gehört!“ – Und sonst? – Guck mal hier“, sagt der eine und zieht die heu­tige Aus­gabe des Nord­ku­rier“ aus seiner Plas­tik­tüte. Klopft auf die Titel­seite: Schlä­gerei in Berufs­schule ruft Polizei auf den Plan“, steht da. Er zeigt auf die Gebäude hinter der Bus­hal­te­stelle und dann nach links auf die Häuser mit den zer­schla­genen Fens­tern: Das sind die Flücht­lings­un­ter­künfte, und dahinter findste die Berufs­schule. Manchmal geht hier die Luzi ab.“

Genau hier, im Nord­osten Neu­bran­den­burgs, wo die Zeit seit der Wende ste­hen­ge­blieben scheint, aber jetzt manchmal richtig Rem­mi­demmi ist, begann vor über 50 Jahren eines der schönsten Mär­chen der deut­schen Fuß­ball­ge­schichte. Es han­delt von dem ein­zigen Schwarzen in der DDR-Liga. Einem jungen Mann, der Anfang der Sech­ziger aus Guinea nach Ost­deutsch­land auf­brach, um in Neu­bran­den­burg Bau­wesen zu stu­dieren, und wenig später ganz unver­hofft zum Tor­jäger des lokalen Fuß­ball­klubs wurde. Der es später sogar bis in die Natio­nal­mann­schaft seines Landes schaffte und 1972 zu Afrikas Fuß­baller des Jahres gekürt wurde.

Ent­deckt beim Bas­ket­ball

Das Mär­chen begann an einem Win­tertag 1962 in der Turn­halle an der Spon­holzer Straße 18. Cherif warf ein paar Bälle auf einen Bas­ket­ball­korb, und ein paar DDR-Liga-Kicker des SC Neu­bran­den­burg beob­ach­teten ihn dabei. Sie waren so begeis­tert von den geschmei­digen Bewe­gungen und dem Ball­ge­fühl des Afri­ka­ners, dass sie ihn zu einem Pro­be­trai­ning bei ihrer Fuß­ball­mann­schaft über­re­deten.

Damals gehörten die Gebäude in der Spon­holzer Straße zur VEB Bau-Union und wurden von ost­deut­schen Jung­ge­sellen, Aus­zu­bil­denden oder Stu­denten aus sozia­lis­ti­schen Bru­der­län­dern bewohnt, von jungen Män­nern aus Angola, Mosambik oder Guinea. Hier lebte Sou­ley­mane Cherif mit 29 Lands­leuten, rück­wär­tiges Inter­nats­ge­bäude, Block D. Hier war er ein Stu­dent unter hun­derten, beim SCN wurde er zum Helden.

In der Saison 1962/63 ret­tete er das Team mit seinen Tref­fern vor dem Abstieg, ein Jahr später schoss er es mit zwölf Toren in die Ober­liga. Das Städt­chen in Meck­len­burg-Vor­pom­mern fei­erte die Über­ra­schung wie eine Welt­meis­ter­schaft, für Cherif war der Auf­stieg aller­dings der Anfang vom Ende. Laut DFV-Sta­tuten war es aus­län­di­schen Spie­lern ver­boten, in der höchsten DDR-Klasse zu spielen, wes­wegen Cherif den SC Neu­bran­den­burg im Sommer 1964 wieder ver­ließ. Er spielte ein wei­teres Jahr in Neu­stre­litz, dritt­klas­sige Bezirks­liga, been­dete sein Stu­dium und kehrte heim nach Guinea.

Sie nannten ihn Pelé“

Und das war lange Zeit so ziem­lich alles, was man über den Mann wusste. Gele­gent­lich berich­tete die lokale Presse noch über den Mann aus Guinea. Aber eigent­lich blieb Cherif ein Mys­te­rium. Er war wie ein Geist. Er kam aus dem Nichts und ver­schwand nach zwei Jahren ein­fach so. Selbst in Neu­bran­den­burg findet man nur noch wenige Spuren seines Auf­ent­halts.

Stefan Saager ist heute Geschäfts­führer des SCN und ein hilfs­be­reiter Mann. Er kenne Sou­ley­mane Cherif von Erzäh­lungen, sagt er. Die Alten schwärmen immer noch von ihm. Sie nannten ihn Pelé.“ Wo sind die alten Mit­spieler abge­blieben? Hat jemand noch einen Kon­takt zu ihm? Puh. Saager atmet tief ein und aus und wühlt sich durch ein paar Akten­ordner. Das ist gar nicht so ein­fach, schließ­lich habe sich der Verein ein paarmal umbe­nannt, heute heißt der Fuß­ball­klub 1. FC Neu­bran­den­burg 04. Dann aber hat er einen Ein­fall. Rufen Sie mal Jürgen Schröder an“, sagt er. Der hat mit Cherif zusam­men­ge­spielt, lebt noch in Neu­bran­den­burg und ist ein guter Erzähler.“ 

Jürgen Schröder ist tat­säch­lich sofort dabei. Und er findet das ganz schön ver­rückt, schließ­lich sei erst vor kurzem ein Fil­me­ma­cher in Neu­bran­den­burg gewesen, der eine Doku­men­ta­tion über Cherif machen wollte. Es gab aller­dings kein Bewegt­bild mehr, wes­wegen das Pro­jekt bald wieder beer­digt wurde.

An einem Dienstag Ende Juli erscheint Schröder zu einem Treffen am Neu­bran­den­burger Markt­platz. Er hat etliche Foto­alben und Zei­tungs­aus­schnitte aus den frühen Sech­zi­gern mit­ge­bracht, außerdem zwei wei­tere Mit­spieler von damals: Peter Krabbe und Harry Mehr­wald. Die drei Herren sind mitt­ler­weile um die 70, aber gut in Form und ein­ge­spielt wie damals: der auf­ge­kratzte Krabbe, der ein­fach mal drauf los­spricht. Der elo­quente Schröder, der das Gesagte ein­ordnet. Und der zurück­hal­tende Mehr­wald, der nickt und die Punkte setzt. Pelé war ein feiner Kerl“, sagt Krabbe zu Beginn und berichtet von tollen Taten und noch tol­leren Toren. Schröder sagt: Der hätte auch in der Ober­liga spielen können.“ Und Mehr­wald ergänzt still: Wirk­lich. n guter Junge!“

In den ersten Wochen duschte er mit Bade­hose“

Gut Deutsch konnte Cherif schon am Tag ihres Ken­nen­ler­nens, denn er hatte zuvor einen Sprach­kurs in der Nähe von Dresden gemacht. Trotzdem sei ihm das Leben in Deutsch­land anfangs fremd gewesen. Er trank keinen Alkohol, ernährte sich vege­ta­risch und hörte ganz andere Musik. Die Frauen begrüßte er mit Madame, was ihnen gefiel. Schröder, der als Lehrer arbei­tete, nannte er Pro­fessor. In den ersten Wochen duschte er mit Bade­hose“, sagt Mehr­wald. Bis wir ihm sagten, dass er sie ruhig aus­ziehen kann.“

Sie berichten von ihrem ersten Treffen in der Turn­halle. Mit so einem, dachten sie, könnten sie viel­leicht in die Ober­liga auf­steigen. Also haben wir sofort Trainer Gott­fried Eisler Bescheid gesagt“, sagt Krabbe. Und auch Eisler soll begeis­tert gewesen sein.

Dann legen sie Zei­tungs­aus­schnitte und Bilder auf den Tisch. In einem Artikel aus der Fuß­ball­woche“ erfährt man, dass Sou­ley­manes Vater eine Bana­nen­plan­tage in West­afrika besaß: Er musste schwer arbeiten, um von seinem kleinen Gewinn, den ihm die fran­zö­si­sche Koope­ra­tion zuer­kannte, die acht­köp­fige Familie zu ernähren.“ Auf den Por­trät­fotos blickt der junge Cherif mit wachen Augen in die Kamera, auf den Spiel­fotos erkennt man einen kräf­tigen jungen Mann, mas­sive Beine, den Ober­körper oft nach vorne gebeugt, stets bereit für den nächsten wuch­tigen Schuss. 1,75 Meter, 75 Kilo schwer war er, so steht es in einem Steck­brief.

Fuß­ball­spielen lernte er mit einer Zitrone

Guck mal hier“, sagt Krabbe und legt ein Foto auf den Tisch. Das Bild hat sonst nie­mand. Eine echte Rarität.“ Es zeigt Cherif auf einer stark ver­schneiten Straße in Hen­nigs­dorf in der Ober­havel. Wenige Minuten später bestritt der Stürmer, gerade 18 Jahre alt, sein erstes Freund­schafts­spiel für den SCN, mit Hand­schuhen und drei T‑Shirts unterm Trikot. Aber er konnte sich schnell anpassen“, sagt Krabbe. Hat mal erzählt, dass er das Fuß­ball­spielen mit einer Zitrone gelernt hat.“

Einmal, so sagen sie, schwebte er waa­ge­recht durch den Straf­raum und schoss den Ball im Flug per Hacke ins Tor. Ein anderes Mal, gegen BSG Stahl Eisen­hüt­ten­stadt, trickste er den Tor­hüter beim Elf­meter aus. Er legte sich den Ball auf den Punkt und ging zwei Meter zurück. Danach machte er wieder zwei Schritte nach vorne, und es sah so aus, als wollte er sich den Ball noch einmal zurecht­legen. Im Run­ter­beugen aber schoss er ihn mit der Picke seines Stand­beins ins Tor. Wahn­sinn“, jubelt Krabbe. Das beste Tor des Jahr­zehnts!“

Sein letztes Spiel für den SC Neu­bran­den­burg machte er am 14. Juni 1964. Es war ein kurioser Spieltag, denn Neu­bran­den­burg lag zwei Punkte und 16 Tore vor dem TSC Berlin (heute Union Berlin). Unein­holbar. Eigent­lich. Doch die Ber­liner schossen an diesem Tag gegen den SC Frankfurt/​Oder 15 Tore, schon bei einer 0:1‑Niederlage Neu­bran­den­burgs wären die Ber­liner auf­ge­stiegen. Viel­leicht wollten die Funk­tio­näre lieber eine wei­tere Mann­schaft aus der Haupt­stadt in der Ober­liga sehen“, sagt Schröder. Aber wir hatten ja Pelé!“ Der machte beim 7:1 gegen SC Cottbus zwar aus­nahms­weise mal keine Tore, berei­tete aber für seinen kon­ge­nialen Sturm­partner Mein­hard Uentz eines nach dem anderen vor.

Nach dem Abpfiff trugen die Fans ihren Auf­stiegs­helden auf Schul­tern durch das Gün­ther-Harder-Sta­dion. Und dann war Schluss für Pelé. Natür­lich war er ent­täuscht“, sagt Krabbe. Er kannte zwar die Sta­tuten, aber es hat trotzdem ein biss­chen an ihm genagt.“ Viel­leicht weil er ins­ge­heim doch darauf hoffte, als DDR-Ober­liga-Spieler für west­eu­ro­päi­sche Ver­eine attraktiv zu werden. Viel­leicht auch, weil er zum Pio­nier geworden wäre. Zehn Jahre vor Ibrahim Sunday, der 1975 zu Werder Bremen wech­selte, hätte er der erste Afri­kaner in einer deut­schen Eli­te­liga werden können.

30 Jahre hörte man nichts von ihm

Ein paarmal traf er seine alten Mit­spieler noch, gele­gent­lich nahm er als Zuschauer auf der Tri­büne des SCN Platz. 1965, nach einem Jahr bei Empor Neu­stre­litz, ging es zurück nach Guinea. Ein ehe­ma­liger Ver­eins­arzt besuchte ihn Anfang der Sieb­ziger mehr­mals in Con­akry. Zwi­schen 1965 und 1980 spielte er dort für den Hafia FC, gewann in dieser Zeit zwölf Mal die natio­nale Meis­ter­schaft und drei Mal die afri­ka­ni­sche Cham­pions League. In jenen Jahren erschien ein letztes Inter­view mit Cherif.

Ein Redak­teur der Neuen Fuß­ball­woche“ hatte ihn aus­findig gemacht. Im sozia­lis­ti­schen Satz­bau­kasten-Sprech erin­nerte sich Cherif an seine Zeit in Neu­bran­den­burg: Ich bin der DDR immer ver­bunden, weil ihre Men­schen prak­ti­zieren, was unser Anliegen ist: die Soli­da­rität.“ Danach hörte man in Deutsch­land über 30 Jahre nichts mehr von ihm.

Umso eupho­ri­scher berich­tete der Nord­ku­rier“ im Juli 2014, dass Cherif sich gemeldet habe. Er gra­tu­lierte dem Klub zum 50-jäh­rigen Jubi­läum des legen­dären Ober­liga-Auf­stiegs und schickte die besten Grüße aus Con­akry.

Er dachte wohl, das sei immer noch die höchste Liga“

Heute arbeitet Cherif als Tech­ni­scher Direktor beim AC Horoya in Con­akry, aber eine Kon­takt­auf­nahme ist außer­or­dent­lich kom­pli­ziert. Der Klub ant­wortet wochen­lang nicht auf E‑Mail-Anfragen, die auf der Home­page ange­ge­benen Tele­fon­num­mern führen zu Fax­ge­räten oder ins Nichts. Auch Anfragen an Jour­na­listen aus Con­akry lassen einen ratlos zurück. Einer sagt, dass Cherif mitt­ler­weile in Frank­reich lebe. Ein anderer glaubt, Cherif sei ver­schollen, viel­leicht lebe er irgendwo im Süden Gui­neas.

Ende August aber, wenige Tage vor Redak­ti­ons­schluss, hebt beim AC Horoya doch jemand das Telefon ab, und auch Cherif meldet sich bald darauf. Wir schi­cken ihm die Fotos. Ach ja, sagt er. Das seien gute Erin­ne­rungen, Harry Mehr­wald, Jürgen Schröder, Peter Krabbe – alles gute Typen.

Auch Krabbe sagt: Natür­lich wäre ein Wie­der­sehen toll.“ Aller­dings würden sie ihm dann beichten müssen, dass es sport­lich nicht mehr ganz so gut läuft. Als Pelé uns 2014 schrieb, freute er sich, weil Neu­bran­den­burg in der Ober­liga spielt. Er dachte wohl, das sei immer noch die höchste Liga.“