Liverpool möchte im Champions-League-Finale Real Madrid ärgern. Gelingt Jürgen Klopp diesmal der große Coup? Fünf Wege, wie sein Team den Titelverteidiger schlagen kann.
Jürgen Klopp muss niemanden mehr beweisen, dass er ein Siegertyp ist. Oder vielleicht doch? Klopps Bilanz als Trainer hat einen Makel: seine Ausbeute in großen Finals. Seit dem DFB-Pokalsieg 2012 hagelte es nur Final-Niederlagen für ihn: 2013 verlor sein BVB das Finale der Champions League, 2014 und 2015 das DFB-Pokalfinale, 2016 vergab Liverpool Titelchancen im englischen Ligapokal und in der Europa League.
Dieses Mal will Klopp es besser machen. „Sie hängen keine Silbermedaillen auf in Melwood [Liverpools Trainingsgelände]“, sagt Klopp vor dem großen Showdown am Samstagabend. Doch die Aufgabe könnte schwerer kaum sein: Im Finale wartet Real Madrid, Titelträger in drei der vergangenen vier Saisons. Wie muss Klopps Team dieser Übermacht begegnen? Fünf Dinge, die Liverpool für den Titelgewinn beachten sollte.
1. Vollgasfußball mit angezogener Handbremse
Jürgen Klopp liebt das schnelle Spiel nach vorne. Den Gegner ständig unter Druck setzen, nach Ballgewinnen sofort kontern – Klopp beschreibt seinen Spielstil nicht umsonst als „Heavy-Metal-Fußball“. Doch Klopps Taktik als reinen Vollgasfußball abzustempeln, täte ihm Unrecht. Hinter der Fassade schlummert ein cleverer Defensivtaktiker. Schon in Dortmund ließ Klopp in wichtigen Spielen nicht durchgehend ein hohes Pressing spielen, sondern wies seine Mannschaft an, den Zugriff erst kurz hinter der Mittellinie zu suchen.
Auch gegen Real Madrid dürfte Klopp keine totale Offensive ausrufen. Den größten Fehler, den man gegen Real begehen kann, wäre sie zu früh zu stören. Reals größte Stärken sind die individuelle Klasse und eine professionelle Ruhe am Ball. Wer wild nach vorne rennt, läuft Gefahr, überspielt zu werden. Finden die Verteidiger erst einmal Luka Modric oder Toni Kroos im Mittelfeld, ist der Pass in die Spitze kaum mehr zu verhindern.
2. Kroos und Modric nicht zur Entfaltung kommen lassen
Es ist wahrscheinlicher, dass Klopp seine Spieler anweisen wird, aus einem kompakten 4 – 3‑3-System heraus die Passwege ins Mittelfeld zuzustellen. Liverpools Stürmer beherrschen das Spiel gegen den Ball: Sie achten darauf, dass sich die Mittelfeldstrategen des Gegners stets hinter ihnen befinden, im toten Raum. Sie dürften nur in einzelnen Momenten aggressiv auf Reals Innenverteidiger herausrücken.
Die große Kunst ist es, Reals Mittelfeldspieler auch dann aus dem Spiel zu nehmen, wenn diese sich aus dem Schatten der Stürmer herauswagen. Und das werden sie tun. Toni Kroos beherrscht die Kunst, sich um die erste Pressinglinie des Gegners herumzuschleichen. Häufig bewegt er sich auf die Flügel oder lässt sich zwischen die Verteidiger fallen. Luka Modric wiederum verbleibt in etwas höherer Position. Er möchte stets anspielbar sein, sobald Kroos den Ball erhält.
Auf diese Rochaden muss Liverpools Mittelfeld reagieren, ohne allzu wagemutig herauszurücken. Dann wiederum schaltet sich Isco ein, der hinter dem gegnerischen Mittelfeld Lücken anvisiert. Reals Mittelfeld aus dem Spiel zu nehmen ist ein Drahtseilakt, an dem die meisten Teams in den vergangenen Jahren gescheitert sind.
3. Konterräume nutzen
Reals Mittelfeld bietet eine Schwachstelle: Durch die Umtriebigkeit der Mittelfeldspieler ist Real relativ konteranfällig. Abräumer Casemiro räumt zwar das Gröbste weg für die Kreativspieler um ihn herum. Doch gerade wenn Kroos und Modric sich auf die Flügel bewegen, bietet sich die Chance, über die Räume im Zentrum zu kontern.
Auftritt Mohamed Salah: Liverpools Wunderstürmer (44 Saisontore) rückt häufig von seiner angestammten rechten Seite genau in diese Halbräume. Ohnehin ist Liverpools große Stärke, im Konter die einrückenden Außenstürmer zu bedienen. Diese erhalten wiederum Unterstützung von Edeltechniker Roberto Firmino. Der zentrale Stürmer bewegt sich häufig auf die Flügel.
Liverpool könnte mit der eigenen Konterstärke genau die Schwachstellen Madrids anvisieren. Nicht umsonst hat Liverpool mit vierzig (!) Toren den Champions-League-Rekord geknackt.
4. Liverpools Außenverteidiger müssen über sich hinauswachsen
Liverpools Offensivpower geht zuweilen zulasten der Defensive. Seit die Champions League im aktuellen Modus ausgetragen wird, hat nie ein Finalist mehr Gegentore im laufenden Wettbewerb erhalten als Liverpool (18). Der Qualitätsunterschied zwischen Offensiv- und Defensivspielern ist hoch.
Gerade auf den Außenverteidiger-Positionen schwächelt Liverpool. Linksverteidiger Andrew Robertsons ist defensiv etwas stärker als Trent Alexander-Arnold auf der rechten Seite. Der 19jährige Rechtsverteidiger ist ein riesiges Talent mit großartiger Technik und einer guten Übersicht, hat seine Stärken aber eher in der Offensive. Ob er Reals Weltklasse-Mann Marcelo aufhalten kann? Alexander-Arnold wird über sich hinauswachsen müssen. Klopp wird seine Mittelfeldspieler anweisen, ihn so gut es geht zu unterstützen.
5. Comeback-Qualitäten
Klopp mahnte vor dem Spiel an, seine Mannschaft benötige eine „hohe Frustrationstoleranz“. Tatsächlich befindet sich Real nicht mehr auf dem Niveau vergangener Tage, wie der vierte Platz in der Primera Division beweist. Doch allein durch ihre Abgeklärtheit und ihre hohe individuelle Klasse bestrafen sie Fehler wie kein anderes Team auf der Welt. Einerseits schaffen sie es, sich scheinbar mühelos aus gegnerischem Druck zu befreien. Andererseits verwerten sie ihre Chancen schlicht besser als viele andere Teams – Bayern München kann davon ein Lied singen.
Klopps Truppe wird also in vielen Momenten hinterherlaufen müssen. Einerseits im Pressing, aber vielleicht auch beim Spielstand, wenn Real mit dem ersten guten Angriff in Führung geht. Hier den kühlen Kopf zu bewahren und nicht ins offene Messer zu laufen, dürfte die schwierigste Aufgabe für Klopps Spieler werden. Schon reifere Teams sind daran gescheitert – namentlich die Bayern, Juventus und Paris St. Germain. Klopps Team muss diesen Reifetest bestehen, um den Finalfluch ihres Trainers zu brechen.