Einsicht ist der erste Weg zur Besserung: Der Hamburger SV ernennt Klublegende Horst Hrubesch zum Direktor für den Nachwuchsbereich. Es ist die beste Neuverpflichtung, die der chronisch klamme Ex-Dino machen konnte.
Er kann einfach nicht Nein sagen. Horst Hrubesch stiehlt sich nicht aus der Pflicht, wenn seine Hilfe gebraucht wird. Seit Jahren hatte er seiner Gattin Angelika eine Weltreise versprochen. Doch der Zeitpunkt, um die Koffer zu packen, wurde immer wieder herausgeschoben. Um ihn herum rollten im Nachwuchsbereich des DFB ständig Trainerköpfe, doch auf die Expertise des alten „Hotte“ mochte im Großverband doch keiner so recht verzichten. Er überlebte die Klinsmann-Reformen beim DFB genauso wie die High-End-Innovationen der Löw-Ära. Legionen von späteren Weltstars wuchsen unter der wurstigen Pranke des einstigen Kopfballungeheuers heran. Er startete als Assi unter Bundestrainer Erich Ribbeck, coachte die U18, U19, U20 und U21, die Olympiaauswahl und am Ende sogar die Frauen-Nationalelf. Als DFB-Sportdirektor Hansi Flick 2017 aus dem Amt schied, übernahm er nebenbei interimsmäßig auch noch dessen Job. Hrubesch war der Druide, der mit seiner Killer-Ingredienz „Menschlichkeit“ jedem schlingernden Verbandsteam den passenden Zaubertrank braute.
Doch 2019 nahm er seinen Hut. Sein endgültiger Abschied vom Fußball sollte es sein. Nun löste er das Versprechen ein, auf das Angelika so lang hatte warten müssen. Wäre ja auch noch schöner! Er tat es voller Genugtuung, ohne Blick zurück. Denn Hrubesch, dieses fleischgewordene Monument der Integrität, musste niemandem mehr etwas beweisen. Die Anerkennung des gesamten deutschen Fußballs war ihm sicher. Die Weltmeister von 2014 lobten ihn in höchsten Tönen. Selbst Jogi Löw schien bei seinem Abschied eine Träne im Knopfloch zu verdrücken. Sein Musterschüler Jerome Boateng klingelte – so wie unmittelbar nach dem WM-Finale – pflichtergeben durch. Und über die Lippen von dessen Halbbruder Kevin-Prince kam ebenfalls kein böses Wort, obwohl Hrubesch es war, der ihn einst aus der DFB-Jugendnationalelf nach einer Disziplinlosigkeit verbannt hatte. Warum? Weil der Lange stets alle Tugenden auf sich vereint hatte, die das Klischee einem Straßenfußballer wie ihm von Hause aus zuschreibt: Fairness, Ehrlichkeit, Gemeinsinn, Solidarität, Gerechtigkeitsempfinden, Sportsgeist.
Selbst wer es drauf anlegte, es gab und gibt nichts, was man Hrubesch vorwerfen konnte. Er hatte seine Spieler stets wie die eigenen Kinder geführt. Mit robuster Ansprache, klaren Vorgaben, aber stets voller Empathie. So wie er es als Jugendlicher mit seinen Geschwistern gemacht hatte, als er, der älteste Sohn, bereits im Teenageralter für die Familie die Rolle des Erziehungsberechtigten ausfüllen musste, weil der Vater früh verstorben war. Nie stahl er sich aus der Verantwortung. Er wurde der verlängerte Arm des genialischen Ernst Happel auf dem Rasen. Führte den Hamburger SV mit seinen eher eingeschränkten fußballerischen Fertigkeiten zu Meisterschaften und zum Gewinn des Landesmeisterpokals. Darauf angesprochen, wie das möglich gewesen sei, antwortete er später: „Wie schon? Wir sind füreinander eingestanden und haben die Scheiße durchgezogen.“
Als DFB-Trainer räumte er fast alles ab, was es zu gewinnen gab. Aber nicht in der adrenalinschwitzenden Manier eines Jürgen Klopp oder mit der kargen Verbissenheit von Jupp Heynckes, sondern mit der coolen Gewissheit des Fußball-Facharbeiters und emsigen Malochers, der genau bemessen kann, das nur Fleiß und das tiefe Vertrauen in die Mitarbeiter in diesem Geschäft letzlich den Erfolg zeitigen.
Es zeugt schon von einer besonderen Form der Arroganz, dass in der Führung des HSV über so viele Jahre niemand ernsthaft auf die Idee kam, einen wie ihn einzubinden. Journalisten haben sich die Finger blutig geschrieben über die Großchancen, die der Klub in seiner Jugendarbeit vertan hat. Über all die Choupo-Motings, Jerome Boatengs, Mustafis, Tahs, Arps und Demirbays (die Reihe ließe sich unendlich fortsetzen), die sich ihre frühen Sporen in Norderstedt verdienten, und dann solange von den wechselnden HSV-Profitrainern ignoriert wurden, bis sie irgendwann bei anderen Arbeitgebern zu Topstars avancierten. Was wäre gewesen, wenn der Alchemist Hrubesch sie in Hamburg feingeschliffen und ihnen in seiner unnachahmlich polternden Art ein Entrée bei den ersten Herren am Volkspark verschafft hätte?
Müßig, jetzt noch darüber zu sinnieren. Der HSV hat seinen Nimbus als Bundesliga-Dino verspielt. Die jahrelang sprudelnden Geldquellen sind versiegt. Nach zwei Jahren im Unterhaus des deutschen Fußballs gibt es keine Ausreden mehr. Der Klub muss umsteuern. Und erst jetzt, schließlich und endlich, besitzt die sportliche Führung in Person von Jonas Boldt die Traute, den längst überfälligen Schritt zu gehen. Und Horst Hrubesch nach 37 Jahren (!) wieder einen Job beim Hamburger SV anzuvertrauen. Zur neuen Saison wird der inzwischen 69-Jährige Direktor für den Juniorenbereich des Klubs im Nachwuchsleistungszentrum. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.
Es wird einiges an Überredungskunst nötig gewesen sein. Denn Hrubesch ist keiner, der sich noch für große Kompromisse eignet. Aber dass er wieder mittun will, ist ein deutlich erkennbarer Hoffnungsschimmer nach vielen düsteren Jahren bei den Rothosen. Einen Transfer mit größerer Strahlkraft hätte der HSV mit seinen eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten im Bereich der Lizenzmannschaft so jedenfalls nie umsetzen können.
Denn Hrubesch erfüllt nicht nur die Erinnerungen an glorreiche Zeiten bei der Anhängerschaft mit neuem Leben. Er steht auch für bodenständige Werte, die dem Klub in seinen Jahren als Chaosverein längst abhanden gekommen schienen. Und nicht zuletzt taugt er trotz seines fortgeschrittenen Alters ideal als Symbolfigur für einen Neuanfang und ein Umdenken in Demut, das auch von der Emotion getriebene Unterstützer – etwa den Milliardär Klaus Michael Kühne – motivieren könnte, wieder in den HSV zu investieren.
„Ich habe in den Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass der HSV jetzt den richtigen Weg eingeschlagen hat“, wird Hrubesch auf der Vereinshomepage zitiert, „es geht im Fußball nicht um kluges Reden, es geht um harte Arbeit, um Fleiß, Geduld und Überzeugung. Nur damit kann man weiterkommen.“ Sollten die Verantwortlichen ihn also nicht nur als Galionsfigur missbrauchen, sondern seinem Wort und seinen Überzeugungen Gehör schenken, stände dem reaktivierten Rentner nach den vielen Erfolgen im Herbst seiner Trainerlaufbahn nun seine wohl bedeutendste Aufgabe bevor: Er könnte als Chefarchitekt im Unterbau beim HSV ein ganz neues Fundament einziehen und damit die längst überfällige Restrukturierung des einst glorreichen Vereins einleiten.
Hrubesch könnte der Mann mit dem Defibrillator bei der Reanimation des Dinos sein. Also, Onkel Hotte, zieh die Scheiße durch!