Jahrelang galt die russische Nationalmannschaft als Inbegriff der Erfolglosigkeit, bevor sie bei der Heim-WM bis ins Viertelfinale stürmte. Doch wie nachhaltig ist der aktuelle Erfolg des deutschen Gegners?
Im Olympiastadion von Sotschi laufen die letzten Minuten. Die „Sbornaja“ steht an diesem Oktoberabend vor ihrem zweiten Sieg in der Nations League, gegen die Türkei führt sie nach einer mehr als souveränen Leistung mit 2:0. Wenige Kilometer vom Stadion entfernt kann man dem Rauschen des Schwarzen Meeres lauschen, doch auf den Traversen der 2013 fertig gestellten Arena kocht die Atmosphäre hoch.
Mit Tränen am Pfosten
Fans huldigen mit Sprechchören die Nationalspieler, Kinder mit leuchtenden Augen entdecken in der eigentlich vom Eishockey geprägten Nation gerade den Fußball, und der Russlanddeutsche Roman Neustädter ist als Torschütze zum 1:0 einer der gefeierten Helden des Abends. Was zu Beginn des Jahres noch unrealistischer als ein warmer Moskauer Dezember war, ist an diesem Abend Realität geworden. Denn die Weltmeisterschaft im eigenen Land hat den Startschuss für die Revolution des russischen Fußballs gegeben.
Dabei wurden nur drei Monate zuvor im selben Stadion bittere Tränen vergossen. Nach der unglücklichen Viertelfinalniederlage gegen den späteren Vize-Weltmeister Kroatien, bei der im Elfmeterschießen lediglich das nötige Glück zum Weiterkommen fehlte, kannte die Enttäuschung bei Fans und Spielern zunächst keine Grenzen. Sinnbildlich in diesem Moment war wohl das Bild von Torwart Igor Akinfeev, der nach dem entscheidenden Schuss von Ivan Rakitic wie einst Oliver Kahn neben einer Jubeltraube kroatischer Spieler mit Tränen in den Augen am Pfosten hockte.
Auf einmal Helden
Doch schnell überwog der Stolz die Enttäuschung über das Ausscheiden. Schließlich hatte diese russische Mannschaft, die vor dem Turnier sowohl in der Heimat, als auch im Ausland belächelt und als erster Kandidat für ein Vorrundenaus gehandelt wurde, mehr erreicht, als die kühnsten Optimisten ihr zugetraut hätten. Roman Neustädter, der vor der WM aus dem Kader gestrichen wurde und mittlerweile wieder für Russland aufläuft, erinnert sich im Gespräch mit 11FREUNDE: „Unsere Auftritte in den Testspielen vor dem Turnier waren in der Tat nicht gut, deshalb war die Berichterstattung auch sehr negativ. Doch während der WM hat sich das dann total geändert. Auf einmal waren die Spieler Helden, und die Euphorie im Land war riesengroß. Die Jungs haben in diesen Wochen einfach Wahnsinnsleistungen gezeigt, und obwohl ich nicht dabei war, habe ich natürlich auch von zu Hause aus mitgefiebert.“
Aber nicht nur die Mannschaft, sondern auch Trainer Stanislav Tschertschessow hatte es seinen Kritikern gezeigt. War er vor dem Turnier aufgrund der schlechten Testspielergebnisse noch Opfer von Spott und Häme geworden, so stieg er spätestens nach dem sensationellen Achtelfinalsieg gegen Spanien endgültig zum Nationalhelden auf. Mit einer taktischen Meisterleistung und etwas Glück bezwang die „Sbornaja“ den Weltmeister von 2010. Auch Neustädter kann berichten, welchen Wert der Coach auf die taktische Vorbereitung legt: „Tschertschessow und das ganze Trainerteam analysieren die Schwächen und Stärken unserer Gegner bis ins kleinste Detail, und bereiten uns dann in den Mannschaftssitzungen akribisch auf die Spiele vor.“