Nach 18 Jahren hat sich Österreich erstmals wieder sportlich für ein großes Turnier qualifiziert. Für einen jungen Fan aus Graz endet ein langer Leidensweg.
Als Österreicher ist man stolz auf vieles, was man nicht selbst erreicht hat. Auf glitzernde Gebirgsseen. Auf Greifvögel in Naturschutzparks. Und auf den Tiefschnee „unserer“ Skipisten. Auch ein wenig, weil „unser“ Nationalteam jahrzehntelang so scheiße war, dass der riesengroße Stefan Maierhofer im September 2008 beim WM-Qualifikationsspiel in Marijampole gegen Litauen wie ein verwirrter Seehund an jedem hohen Ball vorbeisegeln konnte. Er spielte trotzdem über die gesamten 90 Minuten.
Im nächsten Spiel erreichte die Mannschaft dann ohne ihn 1:1 gegen die Färöer Inseln. Unentschieden. Gegen Fischer und Dachdecker, die nur an ihrem Feierabend Fußball spielen. Wenn man die EM 2008 im eigenen Land ausnimmt, dann war Österreich 18 Jahre lang nicht mehr bei einem internationalen Turnier dabei. Das tat richtig weh. Bis Dienstagabend.
„Ich glaube, wir schreiben Geschichte damit“
Nach dem vorvorletzten Qualifikationsspiel für die EM in einem Jahr streifte sich die Mannschaft „Frankreich, wir kommen!“-T-Shirts über und lief zu den 2000 mitgereisten Fans im Gästesektor. In der ansonsten leergefegten Stockholmer Friends-Arena packten sich David Alaba und Martin Harnik das Capo-Megaphon und sangen „Humba-Humba-Täterä“. Teamchef Marcel Koller tauchte sein Gesicht in das Meer gieriger Fan-Hände vor dem Auffangzaun, bevor ihn die Mannschaft in die Jubeltraube nahm. Sie warf den kleinen Mann auf und ab. Marko Arnautovic schaute beim Interview am Rasen in den bewölkten Stockholmer Nachthimmel und sagte: „Ich glaube, wir schreiben Geschichte damit.“
Zum ersten Mal hatte sich Österreich gerade für eine EM-Endrunde qualifiziert. Und das ziemlich beeindruckend. Vor dem Ankick (österreichisch für Anstoß, d. Red.) brauchte die Mannschaft noch einen Punkt, um sich sicher zu qualifizieren. Nach 88 Minuten stand es 4:0 für Österreich, in der Nachspielzeit erzielte Zlatan Ibrahimovic lediglich noch einen Ehrentreffer. Jetzt ist Österreich mit acht Punkten Vorsprung auf Russland sicher Gruppensieger und für die Auslosung der Endrunde in Topf 2 gereiht.
Österreich, das war damals immerhin halbwegs was
Das habe ich in meinem ganzen Leben als junger österreichischer Fußballfan noch nie gesehen. „Humba humba täterä“, ein Teamchef in den Armen der Spieler, 2000 mitgereiste Fans – das volle Feierprogramm. Und das nach einem Spiel der Nationalmannschaft. Ein Abend purer Freude nach 18 Jahren Schmerz.
Als junger österreichischer Fußballfan kenne ich eine erfolgreiche österreichische Nationalmannschaft nur aus verpixelten Youtube-Videos. Das letzte Mal qualifizierte sich Österreich für eine WM 1998. Seinen bekanntesten Fußball-Erfolg feierte Österreich aber zwanzig Jahre zuvor. Heute noch läuft im Fernsehen in Dauerschleife ein Bezahlsender-Werbespot, in dem Hans Krankl einem frechen Jungen erklärt: „Das Tor von damals, kann man sich immer anschauen.“ 1978 schoss Hans Krankl in Cordoba die österreichische Nationalmannschaft im letzten Spiel der WM-Zwischenrunde zum 3:2‑Sieg gegen Deutschland. Österreich war zu diesem Zeitpunkt schon ausgeschieden.
Und nach dem Spiel musste Deutschland auch nach Hause fahren. Der größte Triumph dieses Landes: Einst hat man dem großen Nachbarn in die Suppe gespuckt. Alles zu Ende erzählt und bis zum Erbrechen wiederholt. Denn Österreich, das war damals immerhin halbwegs was.
Die eigentliche Dürreperiode begann im März 1999 mit dem „Kegel-Abend in Valencia“. Der damalige Teamchef Herbert Prohaska saß traurig auf der Ersatzbank und sah ratlos dabei zu, wie seine Mannschaft in der Qualifikation für die EM 2000 gegen Spanien neun Tore einsteckte. Immerhin behielt die Mannschaft ihre Selbstironie. „Hoch wea mas nimma gwinnen“, meinte Anton „Toni“ Pfeffer im Interview während der Halbzeitpause. Da lagen sie schon 0:5 zurück.
Wieder gehofft, wieder enttäuscht worden
Ich führte mit dem Nationalteam eine immerwährende On-Off-Beziehung. Im Oktober 2004 war nach dem 3:3‑Unentschieden in der Qualifikation für die WM 2006 gegen Nordirland erstmals endgültig Schluss. „I bin gezeichnet von an Match, 3:3, das ma gwunnan habn“, erklärte Teamchef Hans Krankl todernst nach Schlusspfiff im Fernsehinterview. Die Mannschaft habe gegen die knochenharten Nordiren beherzt gekämpft und die Leistung des Schiedsrichters war „irre-regulär“. Da sei die Qualifikation doch nebensächlich. Wieder gehofft, wieder enttäuscht worden. Auf so vielen Ebenen.
Doch dann lockte mich die Mannschaft wieder mit hoffnungsversprechenden Glanzmomenten. Und das auszehrende Mitfiebern ging weiter. Besonders heftig waren die Enttäuschungen der vergangenen zwei Qualifikationen. Zweimal war die Mannschaft in großen Spielen ganz nahe dran – und es reichte wieder nicht. Im Juni 2011 verhinderte Mario Gomez im Ernst-Happel-Stadion in der Nachspielzeit mit seinem Kopfballtor zum 2:1 das „Wunder von Wien“. Im September 2012 verstolperte Marko Arnautovic im selben Strafraum und wieder gegen Deutschland in der 88. Minute den 2:2‑Ausgleichstreffer im Hinspiel für die Qualifikation der WM 2014. „Ooooh, ooh! Arnautovic…ah!“, schrie ORF-Kommentator Thomas König damals in sein Kopfmikrofon, als hätte er sich in einem verzweifelten Akt der Selbstkasteiung in den Bauch gestochen. Es tat wieder weh.
Dieses Mal gab es Grund zur Hoffnung
Dennoch gab es dieses Mal Grund zu wirklicher Hoffnung. Die Mannschaft spielte selbstbewusst und mit Plan. Marcel Koller hatte ihr eine ungewohnte Zielstrebigkeit vermittelt. Und die vielen Deutschland-Legionäre setzten diese um. Bis zur vorletzten Spielrunde gegen Schweden hatte Österreich noch die Chance auf den Playoff-Platz hinter Deutschland und verlor knapp vor Schluss nach einem Treffer von Zlatan Ibrahimovic mit 1:2.
Marcel Koller hatte vor der Qualifikation den Posten von Dietmar „Didi“ Constantini übernommen. Ein kerniger Tiroler, der das Anforderungsprofil für den Teamchef-Posten erfüllte, weil er einst Co-Trainer von Ernst Happel war. Vor dem Qualifikationsauftakt für die EM 2012 gegen Kasachstan meinte dieser, die taktische Ausrichtung der Mannschaft sei ihm spontan beim Radfahren eingefallen. In Österreich gibt es eine eigene Phrase für ungerechtfertigte Selbstbeschaffung: „es sich richten“.
Vorgestern richtete es die Mannschaft. In der Friends Arena, wo man vor ziemlich genau zwei Jahren so knapp an einem Playoff-Spiel dran war wie schon lange nicht. Noch nie habe ich eine österreichische Mannschaft in einem Entscheidungsspiel so abgebrüht und entschlossen auftreten gesehen. In der 9. Minuten lupfte David Alaba einen Elfmeter wie von Andrea Pirlo höchstselbst getreten zur 1:0‑Führung in die Tormitte.
Marko Arnautovic, der früher oft dafür kritisiert wurde, zu wenig Einsatz zu zeigen, sprintete noch nach der 1:4‑Führung kurz vor Schlusspfiff einem möglichen Pressball mit Andreas Isaksson entgegen. So stur, wie er es schon in fast allen Qualifikationsspielen zuvor getan hatte. Nach dem Spiel postete er dann auf seiner Facebookseite: „Frankreich, wir kommen, oida!“
Hier kann ein Hype schnell groß werden
Dort wird Österreich mit einer Mannschaft antreten, die besser Fußball spielt als Stefan Maierhofer. Nur drei Spieler standen vorgestern in der Startelf, die nicht bei Marcel Kollers Amtsantritt schon dabei waren. Die Mannschaft ist eine eingeschworene Einheit. Und das reißt viele der leidgeprüften Fans mit. Tausende Österreicher werden nächstes Jahr nach Frankreich mitreisen. In einem kleinen Land kann ein Hype schnell groß werden.
Für gestern Abend hatte der ORF sein Programm geändert. Zur Primetime sendete der öffentlich-rechtliche Sender eine Sonderdokumentation über die erfolgreiche Qualifikation der Nationalmannschaft. Zeitgleich lief auf dem Sender von Red-Bull-Eigentümer Dietrich Mateschitz eine Naturdokumentation. Doch Sendungen über Gebirgsseen, Greifvögel und Tiefschnee sind zurzeit jedem österreichischen Fußballfan egal. Wir sind ja wieder wer, oida!