Im Champions-League-Finale krönte Thiago seine Zeit beim FC Bayern mit seinem wohl besten Spiel im roten Trikot. Seine Zukunft beim Triplesieger ist weiter unklar. Höchste Zeit, dass die Verantwortlichen handeln, statt Witze zu machen.
Eine solche Rolle hätte er für den FC Bayern in den vergangenen sieben Jahren gerne häufiger eingenommen. Doch immer wieder warfen ihn Verletzungen zurück. Direkt bei seinem Startelfdebüt im August 2013 riss ihm das Syndesmoseband. Es folgte das Seuchenjahr 2014, in dem er sich gleich dreimal einen Riss am Innenband im rechten Knie zuzog. Er verpasste dadurch auch die WM im Heimatland seines Vaters Mazinho, der 1994 Weltmeister mit Brasilien wurde. Zuletzt unterzog sich Thiago im Juni einer Leistenoperation und konnte am Bayern-Endspurt in der Bundesliga nicht teilhaben.
Für 25 Millionen Euro kam Thiago 2013 an die Isar, wo ihn mit Schweinsteiger, Kroos, Götze, Martinez, Ribéry, Robben und Shaqiri ein ähnlich starkes Mittelfeld erwartete wie jenes, vor dem er in Barcelona geflohen war. Und vielleicht erinnern sich die Verantwortlichen beim FC Bayern an das Jahr 2013 zurück. Nach dem ersten Triple der Vereinsgeschichte stellte sich ebenfalls die Frage: „Braucht man Thiago unbedingt im Team?“ Die Antwort gab er am Sonntagabend auf dem Platz.
Und vielleicht fühlt sich Thiago derzeit sogar so wohl, weil zu Corona-Zeiten keine Zuschauer im Stadion sind. Ihn erwarteten nicht Tausende von Fans, die Fotos machen wollten, ihn umarmten oder küssten. Es war nur das Spiel, auf das er sich voll und ganz fokussieren konnte. In den letzten sieben Jahren in München wirtke der Spanier stets irgendwie unnahbar. Wie eine Maschine, die auf dem Platz funktionierte. Er wolle danach beurteilt werden, was er auf dem Rasen tue und da rückte der Mensch Thiago oft bewusst in den Hintergrund. „Meine Realität ist Fußball. Und deshalb versuche ich, Physis und Geist voll und ganz auf diesen Sport auszurichten“, sagte Thiago 2018 in der Dezember-Ausgabe von 11FREUNDE in einem seiner seltenen Interviews. In der Außenwahrnehmung wirkte das dann zuweilen so, als würde sich Thiago in München nicht wohlfühlen.
Zwar könnten die Münchner Thiago noch zu seiner Vertragserfüllung bis 2021 drängen, müssten ihn dann aber im kommenden Sommer ablösefrei ziehen lassen. Oder sie lassen ihn in diesem Sommer noch gehen und kassieren wohl zwischen 40 und 50 Millionen Euro. Noch vor zwei Monaten hieß es, eine Vertragsverlängerung sei ausgehandelt. Doch Thiago sah dann seine letzte Chance, eine neue Auslandserfahrung zu machen. Die Verhandlungen wurden auf Eis gelegt.
Bei einem Wechsel entstünde eine Lücke im Bayernmittelfeld, die sich nicht so leicht schließen ließe. Leon Goretzka bringt mit seiner physischen Stärke mehr Power in die Offensive, hat allerdings nicht die spielerische Leichtigkeit eines Thiago. Javi Martinez, der zuletzt mit Stade Rennes und dem AC Florenz in Verbindung gebracht wurde, fehlen die offensiven Qualitäten. Auch Coutinho, der auf der offensiver ausgerichteten Zehn spielt, die auch Thiago ausfüllen kann, wird den Verein wohl verlassen. Joshua Kimmich könnte Thiago mit seinem exzellenten Passspiel wohl am ehesten ersetzen, wird aber bisweilen auch als rechter Verteidiger gebraucht.
Zumal Thiago unter Hansi Flick (wie die meisten Spieler) noch einmal einen Schritt nach vorne gemacht hat. Galt er früher bisweilen als zu verspielt, ordnet er sich nun komplett dem Team unter. Nach seiner Auswechslung gegen Paris avancierte er kurzerhand selbst zum Fan. Auf der Tribüne war ihm die Anspannung anzumerken, so sehr fieberte er mit seiner Mannschaft mit. Die Szene nach Abpfiff, als Hansi Flick Thiago lange in den Arm nahm, offenbarte das innige und vertraute Verhältnis der beiden.
Sollte der Spanier wie anzunehmen zu Jürgen Klopp nach Liverpool wechseln, erwartet ihn dort definitiv auch ein herzlicher und vor allem authentischer Trainer. „Es ist mein Job, mich auf neue Situationen einzustellen. Und es ist eine Herausforderung, ob man mit den Ideen des neuen Coaches zurechtkommt“, sagte Thiago 2018 im 11FREUNDE-Interview. Im schnellen Umschaltspiel von Liverpool hätte er womöglich beste Chancen, die neue Herausforderung zu meistern.
Offenbar zögert Liverpool allerdings noch, weil – wie könnte es anders sein – das Mittelfeld an der Anfield Road üppig besetzt ist. Es ist die wohl letzte Chance für den FC Bayern, den drohenden Abgang zu verhindern. Denn, wenn ein Klub einen Thiago im Kader hat, sollte er alles versuchen, ihn von einem Verbleib zu überzeugen. Ohne Witz!