Im Champions-League-Finale krönte Thiago seine Zeit beim FC Bayern mit seinem wohl besten Spiel im roten Trikot. Seine Zukunft beim Triplesieger ist weiter unklar. Höchste Zeit, dass die Verantwortlichen handeln, statt Witze zu machen.
„Thiago hat mir erzählt, dass er bleiben wird“, sagte Hansi Flick auf der Pressekonferenz nach dem Triumph im Finale der Champions League. Er verstand das als Witz. Freute sich diebisch über das Gesicht des Journalisten, der für einen kurzen Moment dachte, mit seiner Frage das Mysterium um die Zukunft des Spaniers gelöst zu haben.
Doch Flick klärte prompt auf: „Ich weiß es nicht, er weiß es bis jetzt selbst nicht. Wir müssen abwarten und sehen, was in den nächsten Tagen passiert.“ Bei aller Freude über die beispiellose Erfolgsserie unter Trainer Flick: Über Thiagos Zukunft sollte der Coach keine Witze machen und abwarten. Denn wenn ein Klub einen Spieler wie Thiago in seinen Reihen hat, dann muss er verdammt nochmal versuchen, ihn zu halten.
Denn dieser Thiago riss am Sonntagabend das Spiel gegen Paris Sanit-Germain komplett an sich. Niemand auf dem Feld spielte mehr Pässe, keiner ging häufiger in Zweikämpfe. Der Spanier kontrollierte das Mittelfeld – sowohl offensiv als auch defensiv.
Auch Thiagos ehemaliger Arbeitgeber in Barcelona durfte beim denkwürdigen 8:2 im Viertelfinale zusehen, wie Thiago 96 Prozent seiner Pässe zu einem Mitspieler brachte. In Barcas berühmter Jugendakademie „La Masia“ reifte Thiago zum Profi. Schon damals als 14-Jähriger ordnete er alles dem Job des Fußballprofis unter. Zog ohne seine Familie ins tausende Kilometer entfernte Katalonien, nahm sich zurück, als seine Freunde das Ausgehen für sich entdeckten.
„Thiago oder nix“
Sein ehemaliger Mitspieler Xavi sagte einst, Thiago könne „unglaubliche Dinge“. Den bleibendsten Eindruck hinterließ er bei Pep Guardiola, der ihn dann zum FC Bayern lotste. „Thiago oder nix“, war Peps großer Wunsch, als er nach München kam. Dort setzte er sich schon in der Vorbereitung gegen die Konkurrenz durch.
Direkt sein erster Bundesligatreffer war ein Ausnahmetor. Mit seinem Seitfallzieher gegen Stuttgart sicherte er den Bayern damals den Sieg. Es sind aber nicht Szenen wie diese, die Thiago für den Rekordmeister so wichtig machen. Wie in einem Marionettenspiel zieht Thiago lieber die Fäden des Spiels, deutet Räume und verteilt die Bälle. Der Spanier begreift sich auf dem Platz als Taktgeber und Teamplayer und will dabei nicht um jeden Preis im Mittelpunkt stehen.
Er überzeugt durch Handlungsschnelligkeit und Anpassungsfähigkeit. Noch bevor er den Ball am Fuß hat, schnellt sein Kopf umher und seine Augen scannen seine Umgebung. Der erste Kontakt ist oft nur eine Vorbereitung für den darauffolgenden Geniestreich. Häufig dreht er aber auch ab und spielt zu seinen Außenverteidigern. Thiago kann Spielsituationen lesen.
Eine solche Rolle hätte er für den FC Bayern in den vergangenen sieben Jahren gerne häufiger eingenommen. Doch immer wieder warfen ihn Verletzungen zurück. Direkt bei seinem Startelfdebüt im August 2013 riss ihm das Syndesmoseband. Es folgte das Seuchenjahr 2014, in dem er sich gleich dreimal einen Riss am Innenband im rechten Knie zuzog. Er verpasste dadurch auch die WM im Heimatland seines Vaters Mazinho, der 1994 Weltmeister mit Brasilien wurde. Zuletzt unterzog sich Thiago im Juni einer Leistenoperation und konnte am Bayern-Endspurt in der Bundesliga nicht teilhaben.
Für 25 Millionen Euro kam Thiago 2013 an die Isar, wo ihn mit Schweinsteiger, Kroos, Götze, Martinez, Ribéry, Robben und Shaqiri ein ähnlich starkes Mittelfeld erwartete wie jenes, vor dem er in Barcelona geflohen war. Und vielleicht erinnern sich die Verantwortlichen beim FC Bayern an das Jahr 2013 zurück. Nach dem ersten Triple der Vereinsgeschichte stellte sich ebenfalls die Frage: „Braucht man Thiago unbedingt im Team?“ Die Antwort gab er am Sonntagabend auf dem Platz.
Und vielleicht fühlt sich Thiago derzeit sogar so wohl, weil zu Corona-Zeiten keine Zuschauer im Stadion sind. Ihn erwarteten nicht Tausende von Fans, die Fotos machen wollten, ihn umarmten oder küssten. Es war nur das Spiel, auf das er sich voll und ganz fokussieren konnte. In den letzten sieben Jahren in München wirtke der Spanier stets irgendwie unnahbar. Wie eine Maschine, die auf dem Platz funktionierte. Er wolle danach beurteilt werden, was er auf dem Rasen tue und da rückte der Mensch Thiago oft bewusst in den Hintergrund. „Meine Realität ist Fußball. Und deshalb versuche ich, Physis und Geist voll und ganz auf diesen Sport auszurichten“, sagte Thiago 2018 in der Dezember-Ausgabe von 11FREUNDE in einem seiner seltenen Interviews. In der Außenwahrnehmung wirkte das dann zuweilen so, als würde sich Thiago in München nicht wohlfühlen.
Zwar könnten die Münchner Thiago noch zu seiner Vertragserfüllung bis 2021 drängen, müssten ihn dann aber im kommenden Sommer ablösefrei ziehen lassen. Oder sie lassen ihn in diesem Sommer noch gehen und kassieren wohl zwischen 40 und 50 Millionen Euro. Noch vor zwei Monaten hieß es, eine Vertragsverlängerung sei ausgehandelt. Doch Thiago sah dann seine letzte Chance, eine neue Auslandserfahrung zu machen. Die Verhandlungen wurden auf Eis gelegt.
Bei einem Wechsel entstünde eine Lücke im Bayernmittelfeld, die sich nicht so leicht schließen ließe. Leon Goretzka bringt mit seiner physischen Stärke mehr Power in die Offensive, hat allerdings nicht die spielerische Leichtigkeit eines Thiago. Javi Martinez, der zuletzt mit Stade Rennes und dem AC Florenz in Verbindung gebracht wurde, fehlen die offensiven Qualitäten. Auch Coutinho, der auf der offensiver ausgerichteten Zehn spielt, die auch Thiago ausfüllen kann, wird den Verein wohl verlassen. Joshua Kimmich könnte Thiago mit seinem exzellenten Passspiel wohl am ehesten ersetzen, wird aber bisweilen auch als rechter Verteidiger gebraucht.
Zumal Thiago unter Hansi Flick (wie die meisten Spieler) noch einmal einen Schritt nach vorne gemacht hat. Galt er früher bisweilen als zu verspielt, ordnet er sich nun komplett dem Team unter. Nach seiner Auswechslung gegen Paris avancierte er kurzerhand selbst zum Fan. Auf der Tribüne war ihm die Anspannung anzumerken, so sehr fieberte er mit seiner Mannschaft mit. Die Szene nach Abpfiff, als Hansi Flick Thiago lange in den Arm nahm, offenbarte das innige und vertraute Verhältnis der beiden.
Umarmung zum Abschied? Hansi Flick und Thiago.
Sollte der Spanier wie anzunehmen zu Jürgen Klopp nach Liverpool wechseln, erwartet ihn dort definitiv auch ein herzlicher und vor allem authentischer Trainer. „Es ist mein Job, mich auf neue Situationen einzustellen. Und es ist eine Herausforderung, ob man mit den Ideen des neuen Coaches zurechtkommt“, sagte Thiago 2018 im 11FREUNDE-Interview. Im schnellen Umschaltspiel von Liverpool hätte er womöglich beste Chancen, die neue Herausforderung zu meistern.
Offenbar zögert Liverpool allerdings noch, weil – wie könnte es anders sein – das Mittelfeld an der Anfield Road üppig besetzt ist. Es ist die wohl letzte Chance für den FC Bayern, den drohenden Abgang zu verhindern. Denn, wenn ein Klub einen Thiago im Kader hat, sollte er alles versuchen, ihn von einem Verbleib zu überzeugen. Ohne Witz!