Peter Richter arbeitete für die Süddeutsche Zeitung und den Deutschlandfunk und schrieb regelmäßig eine Kolumne für das Kunstmagazin Monopol. Heute ist er Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In seinem Buch „Über das Trinken“ plädiert er für einen selbstbewussten Lebensgenuss und dafür, sich den Rausch auf keinen Fall nehmen zu lassen. Zuletzt arbeitete er im Team der „Harald Schmidt Show“. Ein Gespräch übers Trinken.
Peter Richter, sind Sie Fußballfan?
Peter Richter: Es ist ja leider so, dass man qua Geburt dazu verdammt ist, seinem Heimatverein anzuhängen. Das ist bei mir Dynamo Dresden. Was in den Achtzigern glanzvoll war, wurde in den Neunzigern ziemlich bitter – aber jetzt gibt es ja wieder Grund zur Freude.
Gehen Sie regelmäßig ins Stadion?
Peter Richter: Seit ich nicht mehr in Dresden lebe, habe ich es überall mal versucht: FC St. Pauli, Hertha BSC, Union – ich bin sogar zum BFC Dynamo gegangen, dem alten Erzfeind. So weltoffen bin ich! Generell gehe ich gerne zu Schlagerspielen und speziell solchen Partien, die noch mit dem DDR-Oberliga-Charme behaftet sind. Ich bin nicht der Typ, der sich eine Karte für Wolfsburg gegen Hoffenheim kauft.
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In Ihrem Buch weisen Sie auf die Gefahren der Nüchternheit hin und fordern das Recht auf Rausch ein. Was sagen Sie zu der Forderung des hessischen Innenministers Boris Rhein, Alkohol in Fußballstadien zu verbieten?
Peter Richter: Die Forderung überrascht mich nicht – sie ist aber natürlich trotzdem fatal. Das Bier, das in den meisten Stadien angeboten wird, ist ja ohnehin nur Leichtbier. Um davon wirklich besoffen zu werden, müsste man, glaube ich, Hektoliter trinken, so dass Stadionbesucher nur mit Bierholen und Toilettenbesuchen beschäftigt sind. Das ist vielleicht eine Taktik, die Leute von Schlägereien abzuhalten.
Warum ist die Forderung dann fatal?
Peter Richter: Weil für meine Begriffe Bier zum Fußball zwingend dazugehört. So wie Wein zum Beispiel nicht dazugehört, und Champagner auch nicht; vielleicht noch in den blöden VIP-Logen. Aber zum Fußball gehört Bier, diesen emotionalen Herausforderungen kann man mit einer Tasse Kaffee nicht adäquat begegnen. Denn, das sehen wir ja jetzt gerade bei der Frauen-WM, beim Fußball geht es eben nicht nur um das Spiel allein.
Worum geht es denn?
Peter Richter: Es geht schon auch darum, dass am Wochenende ein Ausnahmezustand hergestellt wird. Im Stadion wird die Komplexität der Welt runtergeschraubt. Männer dürfen wieder „wir“ und „die“ denken und schreien: Wir spielen gegen die. Die Leute schwenken Fahnen wie auf Mittelalter-Turnieren, das ist das denkbar einfachste Weltbild. Das ist alles wahnsinnig dumpf, atavistisch, urmenschenhaft – aber es ist vielleicht notwendig, dass das einmal in der Woche stattfindet, damit man im Alltag gesittet miteinander umgehen kann.
Und das geht nicht ohne Alkohol?
Peter Richter: Es ist eine Erhöhung des eigenen Daseins, wenn man trinkt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man einen Sieg feiern soll, ohne ein alkoholisches Getränk. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, wie man ohne Alkohol eine schmerzhafte Niederlage ertragen soll. Wie sollen Fußballgesänge zustande kommen, ohne dass die Kehle gut geölt ist? Wie soll man sich diese Fußballgesänge anhören, ohne dass man selber ordentlich einen im Turm hat? Das ist der Grund, warum in die Stadien zwingend Alkohol gehört. Es ist wie beim Karneval: Sehr vieles macht erst Spaß ab einem gewissen Promillelevel. Damit es Spaß machen kann, braucht es einen gewissen Grundwahnsinn.
Rhein fordert das Verbot, weil er die Gewalt eindämmen will, die häufig erst durch Alkohol entsteht.
Peter Richter: Prinzipiell ist das natürlich richtig: Wer trinkt, hat weniger Hemmungen auch mal zuzuschlagen. Aber, um es flapsig zu formulieren: Wer besoffen ist, haut auch häufiger daneben. Kann sein, dass Alkohol aggressiver macht, aber er macht gleichzeitig auch harmloser. Ein besoffener Mob ist nichts Schönes. Aber ein besoffener Mob ist nichts im Vergleich zu einem absolut nüchternen Mob, der es auf Gewalt anlegt. Die Hooligans, die in de Neunzigern so viel die Rede war, waren überwiegend gut durchtrainiert und völlig nüchtern. Wer sich noch prügeln will, trinkt eher nicht, sondern holt sich seinen Kick aus der Gewalt.
Ein Alkoholverbot ist also der falsche Weg?
Peter Richter: Ich meine nur, man muss es differenzierter betrachten. Was Rhein gesagt hat ist das, was ein CDU-Politiker zu sagen hat, kurz bevor er in den Urlaub fährt. Die Bevölkerung, die am Wochenende mit der S‑Bahn zum Stadion fährt und auf angetrunkene Fans trifft, kriegt immer das Gefühl: Bitte lieber Staat, schütze uns vor diesen Horden voller Urmenschen! Das können Familienväter sein oder Bankangestellte, nur mit Trikot oder Kutte werden sie zu Urmenschen. Das ist ja der Spaß an der Sache. Die Forderung ist populistisch, weil sie natürlich nicht ausreicht. Es müsste dann auch ein Alkoholverbot rund ums Stadion geben.
Das fordert Rhein ja auch: Verbot schon in der S‑Bahn.
Peter Richter: Genau, es müsste aber noch sehr viel großräumiger sein. Viele Stadien sind ja umgeben von einer Gastronomie, die sich extra für die Spiele aufgestellt hat. Wenn man Fußballtraditionalist ist, trifft man sich mit Freunden, trinkt was vor dem Spiel, dann geht man rein – und kriegt plötzlich nichts mehr zu trinken: Es ist wahnsinnig teuer, wahnsinnig kompliziert, mit Chipkarte und solchem Kram, und wahnsinnig deprimierend, weil Dünnbier. Wenn dann deine Mannschaft noch schlecht spielt, ist die Gefahr, dass Du aggressiv wirst, eigentlich doch viel größer als wenn Dir jemand ein Bierchen reicht und sagt: komm, schluck den Ärger runter.
Was denn nun?
Peter Richter: Es kann natürlich sein, dass man durch Alkoholverbote tatsächlich die Gewalt ein wenig ausbremst. Aber man muss sich immer um die Verhältnismäßigkeit sorgen: Was geht damit noch verloren? Warum gehen Leute denn überhaupt noch in Fußballstadien? Gehen sie da wirklich nur hin, um das Spiel zu sehen? Nein. Als ich früher regelmäßig beim FC St. Pauli war, habe ich mein Bier getrunken, meine Wurst gegessen, mich mit den Fans unterhalten – und das über weite Strecken eher mit dem Rücken zum Spielfeld, weil es nicht mit anzusehen war.
Sie schreiben: „Wer trinkt, trinkt nicht nur für sich, er stellt sich in bestimmte Traditionen“. Gibt es einen Trinkzwang im Stadion?
Peter Richter: (trinkt einen Schluck Radler, überlegt lange) Ich finde schon. Ohne ein erstes Bier getrunken zu haben, sollte niemand ins Stadion hinein dürfen. Und wenn es ein alkoholfreies ist! Grundsätzlich kann ich mir nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die im Stadion gar nichts konsumieren. Du musst ja irgendwas tun. Aber es wird Fußballspiele ohne Alkohol geben.
Die gibt es ja schon. Bei sicherheitsrelevanten Spielen wie zum Beispiel Köln gegen Gladbach oder Schalke gegen Dortmund wird nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt.
Peter Richter: Da sorgt ja auch die schiere Begegnung schon für den Grundrausch.
Braucht es den Alkohol also überhaupt?
Peter Richter: Es müsste jedenfalls sichergestellt sein, dass jedes Spiel so brisant ist wie zwischen Gladbach und Köln oder Dortmund und Schalke. Ich glaube aber nicht, dass es das ist, was der Innenminister sich vorgestellt hat.
Was würde passieren, wenn der Alkohol komplett aus den Stadien verschwände?
Peter Richter: Der Fan würde einen wesentlichen Teil seiner Lebensqualität verlieren. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Es ist genauso wie mit der Frage: Was würde passieren, wenn es keine Stehplätze mehr im Stadion gäbe? Ja, man kann sich auch auf Sitzplätzen das Spiel anschauen, aber ist es noch das gleiche?
Das Stadion ist also eines der letzten Refugien für Männer, die trinken dürfen, ohne dafür eine Legitimation zu brauchen?
Peter Richter: Sie haben sogar gleich drei: sich selbst, den Gegner und das Fußballspiel.
Sie haben geschrieben, dass wir uns auf dem Weg in eine Gesellschaft der Abstinenz befinden. Sehen Sie sich durch Forderungen wie die von Herrn Rhein bestätigt?
Peter Richter: Ja, eine Tendenz ist erkennbar. Das Rauchen wurde verboten. In Amerika ist es verboten in der Öffentlichkeit zu trinken. Das ist in den meisten europäischen Ländern noch erlaubt, wird aber auch nicht mehr lange so sein. Wenn man da nicht aufpasst, hat man am Ende eine Diktatur der Vernunft, die einem auch die Schokolade und das Schweinenackensteak wegnimmt, weil die ungesund sind. Aber was das Leben lebenswert macht, so sagt es auch der Philosoph Robert Pfaller, ist nun mal das, was das Leben potentiell gefährdet. Und Stadien, in denen die Leute nur noch still herumsitzen und artig die Schönheit eines Passes mit einem kleinen Raunen belohnen – das würde auch dem Fußball nicht gut tun.