Klar, Trikot-Bettler nerven mit ihren Pappschildern. Aber sie sind nichts gegen diesen Mann, der in den Achtzigern mit Afro-Perücke und Bibelversen die Stadien enterte – und heute eine lebenslange Haftstrafe verbüßt.
Das Ende ist nah. Das jedenfalls dachte Rollen Stewart, als er im September 1992 eine Frau als Geisel nahm. Er hatte sich mit ihr in einem Zimmer eines kalifornischen Hotels verschanzt. Auf dem Teppich hatte er ein kleines Feuer gelegt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Über 400 Hotelgäste wurden evakuiert. An die Fenster seines Zimmers hängte Stewart Poster mit Bibelversen. Innerhalb weniger Minuten waren Polizisten, Feuerwehrleute und ein SWAT-Team vor Ort. Den verhandelnden Beamten erklärte Stewart, dass die Welt in sechs Tagen untergehen werde. Außerdem drohte er, das Hotel in die Luft zu jagen und auf Flugzeuge zu schießen, die im Landeanflug auf den nahegelegen Los Angeles International Airport waren. Er war der Mann, der früher „John 3:16“ war. Sie nannten ihn den Rainbow Man oder Rock ’n’ Rollen. Fußballfans kannten ihn von den WM-Turnieren 1986 und 1990.
Wäre Rollen Stewarts Geschichte ein Film, wäre sie ein wilder Ritt durch verschiedene Genres. Sie ist Komödie, Groteske und Drama in einem, aber auch True Crime und Mystery. Regisseur Sam Green, der tatsächlich eine Doku über ihn drehte, nannte sie „Slapstick Tragedy“. Vor allem aber ist Stewarts Geschichte eine lange Suche nach dem Sinn des Lebens, das am Anfang nur von Tod umgeben war.
Als Stewart zehn Jahre alt war, starb sein Vater an seiner Alkoholsucht. Bald darauf kam seine Mutter in einem Feuer um. Seine Schwester wurde von ihrem Freund zu Tode gewürgt. Stewart verließ seine Heimatstadt Spokane in Washington, versuchte sich als Drag Racer, führte eine Autowerkstatt, dann eine Ranch, auf der er erst Rinder züchtete und dann Marihuana anbaute. Nichts brachte Erfolg, nichts war von Dauer, also machte er sich eines Tages auf den Weg nach Hollywood, um Schauspieler zu werden. Aber auch in der Filmbranche hatten sie nicht auf ihn gewartet, Stewart hielt sich mit Statisten-Jobs über Wasser, außerdem hatte er durch den Verkauf seiner Ranch etwas Geld.
„Ich wollte geliebt und gesehen werden“
Der Tag, der alles veränderte, war der Faschingsdienstag im November 1976. In einem Interview sagte er mal: „Ich wollte rein ins Showgeschäft. Ich wollte geliebt und gesehen werden. Aber wie? Also entwarf ich eine Figur, die die Leute anheizt und animiert. Eine Figur, die niemand übersehen konnte.“ Ein paar Monate später, im Mai 1977, zog er sich eine bunte Afro-Perücke auf und besuchte ein Spiel der NBA-Finals zwischen den Portland Trail Blazers und den Philadelphia 76ers. Als ihn ein Kameramann fokussierte, begann er umgehend eine wilde Tanz-Perfomance auf den Rängen. Das Echo war gewaltig. Die Zuschauer johlten, den Fernsehzuschauern wurde er als eine Art Superfan präsentiert, ein inoffizielles Maskottchen. Ein bisschen durchgeknallt, aber gutes Bildmaterial für die Spielpausen. Und so tingelte er weiter von Event zu Event, immer auf der Suche nach dem perfekten Sitzplatz im Stadion, dort, wo ihn die Kameras ganz sicher einfangen würden. Immerhin, seine Zappelei machte in landesweit bekannt, und bald durfte er in einem Budweiser-Werbespot mitspielen.
Zu Gott fand er zwei Jahre später. Er war gerade vom Super Bowl in sein Hotelzimmer in Miami zurückgekehrt, als er den Fernseher anmachte und dort bei einer Bibelshow hängenblieb, in der ein Prediger von der Apokalypse fabulierte. Stewart erzählte später, dass er am nächsten Tag als gläubiger Christ wiedergeboren worden sei. Born Again im Holiday Inn. Seine Aufgabe sei es nun gewesen, Gottes Botschaft zu verbreiten, und was eignete sich besser zum Missionieren als die Tribünen der großen Sportveranstaltungen? Dort präsentierte er sich nun nicht mehr nur mit Perücke, sondern auch in einem T‑Shirt mit der Aufschrift „Jesus Saves“ und mit einem Plakat, auf dem nichts weiter als „John 3:16“ stand. Es war der Verweis auf einen Bibelvers aus dem Johannes-Evangelium, der davon handelt, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist, der also im Grunde eine Zusammenfassung der Bibel ist.
In den kommenden Jahren war er überall zu sehen, bei Golfturnieren, den Olympischen Spielen, beim Kentucky Derby, bei Parteiveranstaltungen der Republikaner und der Demokraten. Er tauchte sogar bei der Hochzeit von Prince Charles und Lady Diana auf. Und vermutlich war er in den Achtzigern auch beim Mauerfall, bei Meppens 3:2‑Sieg gegen Bielefeld und bei meiner Einschulung – allerdings gibt es davon keine Beweisfotos.
Zeitweise, so erzählte er, schaffte er zwölf Events pro Woche. Und natürlich hüpfte er auch 1986 und 1990 bei den Fußball-Weltmeisterschaften mit Perücke und Plakat auf den Rängen umher. Er hatte zahlreiche Anhänger und Jünger, die ihm die Reisen finanzierten, die Tickets und ein bisschen Essen kauften. Mehr brauchte er kaum, denn er lebte in einem Auto.
Zico, Sócrates, Falcão – sie hatten die beste Mannschaft der Welt. Warum nur gewannen die Brasilianer in den Achtzigern keine WM?
Viele amerikanische Medien hatten aber bald genug von Stewart, die Programmleiter sagten, dass „dieser Selbstdarsteller“ keine Sendezeit mehr bekommen dürfe. „Er ist die Pest. Er ruiniert jeden großen und erhabenen Moment.“, schimpfte ein NBC-Verantwortlicher 1988 gegenüber dem New Yorker „People“-Magazin. „Wir nehmen ihn aus dem Fokus, wann immer wir können.“ Aber Stewart trickste die Sender aus, indem er ein kleines batteriebetriebenes Fernsehgerät mit zu den Events nahm. So konnte er in Echtzeit verfolgen, sobald die Kamera in seine Nähe zoomte. Uuund: Action! Sofort stürmte er ins Bild, hüpfte umher und hielt sein John‑3:16-Laken hoch.
Er war längst ein Pop-Phänomen geworden, eine Figur, die zitiert und weitererzählt wurde. In einer Folge der Simpsons war er zu sehen, Christopher Walken spielte ihn in einem Sketch bei „Saturday Night Live“, sogar in einem Peanuts-Comic-Strip tauchte er auf. In Europa, wo ihn die Medien noch nicht so gut kannten, war er noch länger der beliebte Halligalli-Freak für die fetzigen Schnittbilder. Zumal es beim Fußball ein witziges Echo gab, denn andere Fans griffen Stewarts Idee oft auf und zeigten Plakate, auf denen Abwandlungen zu lesen waren,„Diego 3:2″,„Lothar 4:1″ oder „Schalke 0:5“.
Dann aber nahm die Geschichte eine dunkle Wendung. Irgendwann nach der WM in Italien radikalisierte sich Stewart. Er schmiedete Pläne über Attentate. Im Mai 1991 wurde er festgenommen, weil er vier Stinkbomben an verschiedenen öffentlichen Plätzen in Orange County gelegt hatte, zum Beispiel bei den American Music Awards. Seine Botschaft: „Gott glaubt, dass dieser Ort stinkt!“ Er kam auf Kaution frei.
Am 22. September 1992 überredete er zwei Arbeitssuchende, mit ihm in ein Hotel zu kommen. Er hätte einen Job für sie. Sie folgten ihm in das Hyatt in der Nähe des Flughafens von Los Angeles, fuhren mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock und betraten Zimmer 718. Als Stewart die Tür aufstieß, traf er dort auf eine weibliche Reinigungskraft des Hotels. Die zwei Männer merkten, dass es etwas faul war und rannten davon. Die Frau verbarrikadierte sich im Badezimmer.
„Ich höre keine Stimmen, ich höre nur eine Stimme, die von Gott“
Nach acht Stunden stürmte das SWAT-Team das Zimmer und befreite die Geisel. Die Beamten fanden die regenbogenfarbene Afro-Perücke, eine Pistole und mehrere Bibeln. „Ich hätte ja auch etwas Schlimmeres machen können“, sagte Stewart auf dem Weg ins Gefängnis. „Leute umlegen zum Beispiel.“ Ein Polizeisprecher sagte: „Das ist nicht Bozo, der Clown, sondern eine sehr kranke und gefährliche Person.“
Vor Gericht lehnte Stewart eine Einigung ab, einen sogenannten Plea Deal, der zwölf Jahre Haft bedeutet hätte. Er wollte seine Botschaft in einem offenen Prozess verbreiten. Keine gute Idee, denn am Ende wurde er dort zu dreimal lebenslänglich verurteilt. Er sitzt heute im kalifornischen Mule Creek State Prison, und vermutlich wird er dort auch die nächsten Jahre verbringen. Reue zeigt er kaum. In einer ESPN-Reportage sagte er, dass er nur den Zeitpunkt seiner Mission falsch gewählt hätte. Die Welt sei noch nicht bereit gewesen. Und dann: „Psychiater fragen mich immer wieder, ob ich Stimmen höre. Ich sage dann, nein, ich höre keine Stimmen, ich höre nur eine Stimme, die von Gott.“ Sport, so erklärte er auch, habe er übrigens immer gehasst. „Aber ich weiß, ich bin ein seltsamer Typ.“
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