Ein ganz persönliches Plädoyer für das gute, alte Stadionbier.
Meine alkoholischen Grenzen wurden mir exakt am 17. April 1995 aufgezeigt. Mein Heimatverein Arminia Bielefeld bestritt in der Regionalliga ein Auswärtsspiel beim FSV Salmrohr und die Busfahrt hatte sich derart in die Länge gezogen, dass die komplette Besatzung schon bei der Ankunft im Salmtal streng genommen in die Ausnüchterungszelle des örtlichen Polizeireviers gehört hätte. Stattdessen wankte der volltrunkene Haufen desorientiert ins Stadion. Das dort ausgeschenkte Vollbier wurde durch den strömenden Regen nur unwesentlich verdünnt. Das Spiel nahmen wir allenfalls noch verschwommen wahr. Nach dem Schlusspfiff und einem 2:1‑Sieg sprang ich ebenso euphorisch wie alkoholisiert mit anderen Arminia-Fans an den Zaun und rüttelte kräftig daran. Weder bemerkte ich, dass die nachlässig verschraubten Einzelteile des Zauns alsbald nachgaben, noch, dass langsam ein Polizeiwagen auf der Tartanbahn vorbeifuhr und beweiskräftige Bilder von uns schoss. Die bekam ich dann zwei Monate später zu sehen. Wir fuhren gerade im Sonderzug nach Meppen, als sich zwei Zivilpolizisten ins Abteil drängelten. Sie präsentierten Abzüge, auf denen ich recht gut zu erkennen war, und baten um meinen Ausweis, zwecks Vorladung als Beschuldigter. Zwei Dinge begriff ich schlagartig. Erstens, dass ich meine Freunde im Abteil nicht als Entlastungszeugen würde aufbieten können, die skandierten nämlich mit diebischer Freude: „Der ist der Schlimmste von uns allen!“ Und: „Das ist der Chef der RAF!“ Zweitens, dass ich in Zukunft im Stadion nicht mehr so viel trinken würde.
Was sich einfacher anhörte, als es ist. Denn Bierkonsum und Stadionbesuch gehören so sehr zusammen wie Wind und Wetter, Sonne und Mond, HSV und Chaos. Wollte man einen perfekten Moment im Stadion beschreiben, so wäre das ein Freitagabend im Frühling, ein ordentlich gefülltes Stadion, von gleißendem Flutlicht erhellt, ein kurz vor Schluss hart erkämpftes 3:2 – und ein Becher Bier in der Hand.
Der biertrinke Fußballfan ist in Verruf geraten
Dabei kann die segensreiche Wirkung von Bier im Stadion gar nicht oft genug gerühmt werden. Es ist so herrlich multifunktional. Es beruhigt unsere Nerven, wenn die eigene Mannschaft an simplen Querpässen scheitert. Es versetzt uns in haltlose Euphorie, wenn plötzlich sogar Diagonalpässe gespielt werden. Es gibt uns Gelegenheit, den klugscheißenden Kollegen nebenan für ein paar Minuten loszuwerden, indem man ihm mit großzügiger Geste einen Schein in die Jackentasche steckt und zum Bierholen schickt, wohl wissend, dass die Wartezeit an der Getränketheke der an einer Ikea-Kasse am Samstagvormittag ähnelt. Es verhindert, dass wir bei peinlichen Schalparaden mitmachen, weil man dafür zwei freie Hände braucht. Es lässt uns schließlich bei Toren wildfremde Menschen umarmen, obwohl uns deren stechender Bieratem beinahe bewusstlos werden lässt. Und das sage ich als kontaktscheuer Ostwestfale, dessen größtes zwischenmenschliches Vergnügen es ist, fragende Autofahrer wissentlich in die falsche Richtung zu schicken.
Man muss das so deutlich sagen, denn der biertrinkende Fußballfan ist seit geraumer Zeit in Verruf geraten. Er gilt als Relikt vergangener Zeiten, als vorwiegend Proletarier zum Fußball gingen und Bierschaum noch im Schnauz hängen blieb. Heute wird er gerne für Platzstürme und Busblockaden verantwortlich gemacht und findet öffentlich nur noch statt, wenn die übertragenden TV-Sender partout keine winkende Oma oder neckisch herausgeputzten Kinder für ihre Pausenbilder gefunden haben und notgedrungen einen im Alkoholrausch auf dem Schalensitz eingenickten Anhänger einblenden müssen.
Wobei nicht vergessen werden sollte, dass die weitaus größeren Alkoholmengen ohnehin schon vor dem Stadionbesuch eingenommen werden. In den Reisebussen der Auswärtsfans wird ab ZOB gelitert, was das Zeug hält, schon um die Querung deprimierender Landstriche wie Ostwestfalen-Lippe, Rheinische Bucht oder Hunsrück ohne seelischen Schaden zu ertragen. Um dem wilden Gebecher einen geselligen Anstrich zu geben, werden in den Bussen gerne Trinkspiele veranstaltet. Womöglich ist auch noch jenes Spiel en vogue, das sich Anfang der neunziger Jahre großer Beliebtheit erfreute und „Stille Bier-Post“ genannt wurde. Einer in den vorderen Reihen nahm ostentativ einen großen Schluck Bier, der dann von Mund zu Mund durch die Reihen weitergegeben wurde. Ein kulinarisches Vergnügen insbesondere dann, wenn die Hälfte der Busbesatzung zuvor beim Halt auf dem Rastplatz kräftig an der Fischtheke zugegriffen hatte. Vom Pfand der in den Bussen vor den Stadien zurückgelassenen Bierflaschen ließe sich jedenfalls auf einen Schlag der Bundeshaushalt sanieren.
Unterdessen sorgen auch die Heimfans schon vor Betreten des Stadions für die alkoholische Grundversorgung. Was vor allem daran liegt, dass in vielen Stadien das Bier in der denkbar deprimierendsten Form gereicht wird. Als habe man einen Tankdeckel geöffnet, wird der Gerstensaft mit einer schnöden Zapfpistole in einen Plastikbecher geschossen. Ein gutes Pils braucht sieben Minuten, sagt der Westfale. Ein schales Pils braucht sieben Sekunden, sagt Aramark. Besser schmeckt das Bier auch nicht dadurch, dass der Plastikhumpen in der Regel mit einem längst an einen Zweitligisten ausgeliehenen Ersatzspieler bedruckt ist und dass bis zur Rückgabe Pfand in Höhe eines halben Monatslohns einbehalten wird. Dann doch lieber die Bierbüchse von der Bude, die den Fan sowohl die Anfahrt in der völlig überfüllten U‑Bahn gemeinsam mit einer Horde strammer Rechtsausleger als auch die Leibesvisitation am Stadioneingang überstehen lässt, an deren Ende stets mit triumphierendem Blick ein Feuerzeug aus der Jackentasche gezogen und stolz den Kollegen gezeigt wird.
Volltrunken durch Alkoholfreies
Im Stadion gibt es natürlich ganz unterschiedliche Trinkertypen. Und nicht wenige davon haben den Ruf der Spezies ziemlich ruiniert. Rätselhaft etwa jene Anhänger, die eine halbe Stunde vor Spielbeginn ein Bier erwerben, um sich dann bis zum Abpfiff krampfhaft daran festzuhalten. Im Zehn-Minuten-Takt nehmen sie ganz vorsichtig kleine Schlückchen, zuverlässig ist dabei jedes Mal hinterher mehr im Becher als vorher. Am Ende ist das Getränk nur noch für Eingeweihte als Bier zu erkennen. Mindestens ebenso verstörend sind jene, die drei alkoholfreie Biere zu sich genommen haben und sich trotzdem ab der 70. Minute wie ein Volltrunkener am Wellenbrecher festhalten. Ein Verhalten, das stark an die Zeitgenossen erinnert, denen früher auf Abi-Partys ein aus frisch gezupften Arschhaaren und herkömmlichem Tabak gedrehter Joint überreicht wurde und die dennoch nach drei tiefen Zügen mit glasigem Blick behaupteten, oh Mann, es wirke schon. Ein eher haptisches Ärgernis sind schließlich all diejenigen, die an der Theke direkt zwei Bierbecher erwerben. Der eine Becher wird gleich beim ersten Tor im allgemeinen Getümmel mit routinierter Ausholbewegung durch den Block geworfen. Wenn dann biertriefende Anhänger wutbebend die Stufen hinaufstapfen, um den Werfer zu bergen und fachgerecht aufzubrechen, hält der als schlagenden Beweis seiner Unschuld bereits den zweiten Bierbecher in der Hand.
Nein, wirklich sympathisch ist allein der gediegene Normalverbraucher, der wie wir an einem Spieltag zwei bis maximal fünf Portionen Bier zu sich nimmt und damit jenen höheren Bewusstseinszustand erreicht, der uns gleich auf den ersten Blick abkippende Sechser, falsche Neuner und fluide Fünfer erkennen lässt. Allerdings erst am nächsten Morgen, wenn wir verkatert die Wiederholung schauen und dann doch ziemlich überrascht über den Spielausgang sind. Echt, wir haben gewonnen?
Zur praktischen Umsetzung: Natürlich geht es während des Spiels darum, den Transport des Bieres so ökonomisch zu gestalten, dass man selbst möglichst wenig vom Spiel verpasst. Dazu ist es wichtig, keinesfalls das Medium zu geben. Denn in jeder größeren Fußballclique wird ein krudes Brauchtum gepflegt, das davon ausgeht, dass immer dann ein Tor fällt, wenn ein Auserwählter aus ihrer Mitte gerade frisches Bier holt. Die Beweisführung ist kläglich: Bloß weil vor zehn Jahren mal bei einem Vorbereitungsspiel gegen einen Kreisligisten das 8:0 gefallen ist, als Atze gerade zufällig an der Biertheke wartete, gilt der gute Mann für alle Ewigkeit als menschgewordenes Medium. Man sagt, er habe magische Kräfte. In Wirklichkeit geht es natürlich nur darum, dass der arme Atze nun immer zum Bierholen losgeschickt wird, in jeder Spielminute, bei jedem Spielstand. Wenn Atze dann endlich vom Bierholen zurück ist, wird sein Engagement vielstimmig gelobt und diskret darüber hinweggeschaut, dass diesmal schon wieder während seiner Abwesenheit kein Tor gefallen ist. Wenn alle Becher verteilt sind, hat in der Regel Atze keinen mehr abbekommen. Dafür ist er aber ein Medium. Ist auch was wert.
Wann man Bier holen sollte
Dabei gibt es empirisch belegt nur zwei oder drei geeignete Zeitpunkte, um frisches Bier zu holen. Eineinhalb Stunden vor dem Spiel, wenn ausschließlich Tagediebe und verlorene Seelen das Stadion bevölkern. 15 Minuten nach Anpfiff, wenn alle ihre Plätze eingenommen haben und sich auf dem Rasen noch ereignisarm abgetastet wird. Und in der 60. Minute, wenn sich der Rückstau aus der Halbzeitpause aufgelöst hat, die Offensive der Heimmannschaft bereits ergebnislos verpufft ist und das ganze Stadion einer unspektakulären 0:1‑Heimniederlage entgegendämmert.
Nur Todesmutige hingegen wagen sich ausgerechnet in der Halbzeitpause an die Tränke, wenn am Bierstand Zustände herrschen wie sonst nur bei der Neueröffnung Berliner Elektronikmärkte. Darwinistisches Gedrängel – selbst nach Bechern, die zu 90 Prozent mit Schaum gefüllt sind, weil gerade das Fass gewechselt werden musste, wird gierig gegrapscht, als verspräche der Trunk das ewige Leben.
Wie gesagt, ich bemühe mich, im Stadion nur in Maßen Bier zu konsumieren. Schon weil ich unter Alkoholeinfluss dazu neige, Spieler zu verwechseln. Was dazu führt, dass ich, wie bereits mehrfach geschehen, mit erhobenem Bierbecher den Rausschmiss verschiedener Spieler fordere und von den Umstehenden dann dezent darauf hingewiesen werde, dass die angeklagten Spieler nicht auf dem Platz stünden oder einer von ihnen schon vor vier Wochen den Verein gewechselt habe. Ähem. Schlimmeres noch geschah einem Fanzine-Kollegen aus Düsseldorf. Der lästerte einmal unter Alkoholeinfluss 90 Minuten hindurch lauthals über einen Mittelfeldspieler, bis eben dieser Spieler direkt nach dem Spielende in seine Richtung gelaufen kam. Nicht um ihm die notwendige Schelle zu verpassen, sondern um freudig seine Familie zu begrüßen, die die ganze Zeit direkt unter ihm gestanden hatte. Furchtbar.
Eine Mischung aus Abscheu und Neid
So etwas will man nicht erleben. Tief in mir schlummert zudem die Furcht, eines Tages Akteur einer Szenerie zu werden, wie ich sie Anfang der Neunziger auf der Bielefelder Alm erlebte. Ein Fan hatte offensichtlich zu viel getrunken und beugte sich langsam vor, um sich zu übergeben. Anschließend erhob er sich wieder und setzte schon in der Aufwärtsbewegung wieder den Bierbecher an. Ein merkwürdiges Gefühl, wenn sich Abscheu mit Anflügen von Neid mischt.
Das Salmrohrer Ermittlungsverfahren gegen mich wurde übrigens schon acht Wochen später von der zuständigen Verbandsgemeinde Wittlich eingestellt. Der demolierte Zaun im Stadion war bereits nach wenigen Tage von fleißigen Handwerkern aufgerichtet worden und hielt genau bis zum 25. Mai. Dann war Rot-Weiss Essen zu Gast.