Der beweglichste Kleiderschrank des Landes, ein schwacher Reklamierarm und ein Stürmer, der spielt, wie Sportjournalisten aussehen. Die deutsche Mannschaft in der Einzelkritik.
Manuel Neuer
Enttäuschende Leistung. Beziehungsweise: Enttäuschende Reklamierarm-Leistung. Weder beim Griezmann-Elfmeter noch beim Griezmann-Jahrhundert-Kopfball schnellte der Arm nach oben. Abgesehen davon ließ sich der Ex-Welttorhüter aber rein gar nichts zu Schulden kommen. Im Gegenteil: Parierte mit tollem Reflex blitzsauber gegen Mbappé und strahlte 90 Minuten lang Sicherheit aus. In dieser Form einer für die Bayern.
Nico Schulz
Hat allein deshalb einen Platz in der Nationalmannschaft verdient, weil er als erster Spieler überhaupt ein Sprintduell gegen Kylian Mbappé gewann. Auch offensiv tat seine Geschwindigkeit dem deutschen Spiel gut. Werden seine Hereingaben noch präziser, ist er – vor allem im System mit Dreierkette – mehr als nur eine Alternative zu Jonas Hector.
Mats Hummels
Nach dem Spiel gegen die Niederlande fühlte er sich von Gott und der Welt ungerecht behandelt – dabei passte diese Gefühlslage mehr zum Spiel in Frankreich. Der Elfmeterpfif gegen ihn war falsch, der Elfmeterpfiff für ihn blieb aus. Da konnte der Münchner schon zurecht hadern, zumal er vorher vortreffliche Arbeit verrichtet hatte. Der Dreierverbund kann auch für Hummels von Vorteil sein, wird er doch hier weniger in 1gegen1-Laufduelle gezwungen. Und damit auch weniger in Verbalzweikämpfe mit Reportern.
Niklas Süle
Der wohl beweglichste Kleiderschrank im deutschen Fußball. Ließ nicht nur bei seiner Monstergrätsche in der zweiten Halbzeit und dem matthäusesken Mittelfeldbulldozer-Solo zum Ende aufhorchen – Süle wird über kurz oder lang bei Bayern und in der Nationalelf einen der Platzhirsche verdrängen. Und die Jubelarien beginnen dann mit: O süle mio!
Matthias Ginter
Eine der Stützen des Gladbacher Aufschwungs – allerdings in der Innenverteidigung. Für die rechte Seite in der Viererkette, oder besser: Ochsenabwehr, fehlt ihm der Zug nach vorne. Die Dreierkette liegt aber auch Ginter, schließlich ackerte er sich 2017 in dieser Formation zum Confed-Cup-Sieger. Was ihm fehlt, ist Fortune: Wie schon im Hinspiel gegen Frankreich, verpasste Ginter das Tor nur knapp. Mit zwei Fast-Toren schon jetzt die falscheste Neun aller Zeiten.
Thilo Kehrer
„Ich finde ja“, sagte mein bald 93-jähriger Opa, als wir das Spiel gestern zusammen schauten und Thilo Kehrer groß durchs Bild lief, „dass die heutzutage alle so bescheuerte Frisuren tragen.“ Was er damit meinte: Abgesehen von seinem Haarschnitt gab es über Thilo Kehrer nicht viel zu meckern. Gut, die Flanke vor dem 1:1 ließ er passieren, aber wäre Antoine Griezmann kein so wunderbarer Kopfballspieler, hätte diese auch nie und nimmer zu einem Tor geführt.
Joshua Kimmich
Entwickelt sich immer mehr zu der Art Giftzwerg, die jedes gute Mittelfeldzentrum braucht. Mit Ball technisch sauber und umsichtig, ohne Ball gallig und unangenehm, und auch in Spielunterbrechungen für jeden Gegenspieler nervig. Weil er entweder über auf dem Boden liegende Zeitschinder schimpft oder auf dem Boden liegt und Zeit schindet. Außerdem mit Traumpass auf Sané, dem dann leider die Nerven versagten. Schon jetzt der kultigste Nationalelf-JK18 seit Jürgen Klinsmann. Oder hat Jens Keller ein Länderspiel?
Toni Kroos
Traf halb-souverän per Elfmeter zum 0:1 und brachte auch endlich wieder gefährliche Standards in den Strafraum. Außerdem spielerisch deutlich verbessert gegenüber dem Spiel in Amsterdam. Wird als einer der wenigen Arrivierten den personellen Umbruch überstehen.
Leroy Sane
Im Nationaltrikot noch immer wie Jeans-Sakko-weiße Sneaker-Sportjournalisten in TV-Talkshows: zu verkrampft. Zeigt trotzdem in fast jeder Aktion, dass dieses Land irgendwann, wenn er denn weniger fahrig spielt und sich selbst nicht so viel Stress macht, unglaublich viel Spaß an ihm haben sollte. Holte den Elfmeter zum 0:1 raus, war fast auf dem ganzen Platz zu finden, strahlte Gefahr aus. Verdaddelte dann aber die große Chance zum 0:2 mit einem schlampigen Zuspiel. Daher jetzt ein alter Tipp aus dem Zeugniskopf unserer Grundschulklassenlehrerin: Sollte bei der Bearbeitung seiner Aufgaben unbedingt mehr Sorgfalt walten lassen.
Serge Gnabry
Wäre Serge Gnabry nicht Serge Gnabry sondern ein Trottel wie wir, dann hätte er nie und nimmer mit einem Startelfeinsatz gerechnet, wäre am Montagabend in Paris saufen gewesen, hätte mit wildfremden Leuten und lokalem Ekel-Schnaps unnötig oft angestoßen, am Ende ins Taxi gegöbelt und wäre dann, am Dienstagmittag, 40 Minuten zu spät und mit mordsmäßiger Fahne beim Treffpunkt erschienen. Aber zum Glück ist Serge Gnabry Serge Gnabry und machte seine Sache deshalb katerlos erstaunlich gut. Sollte in Zukunft nicht mehr als Überraschung in der Startelf durchgehen.
Timo Werner
Schnell isser.
Julian Draxler
Stand gefühlt eine halbe Stunde zur Einwechslung bereit und kam dann auch irgendwie auf dem Platz zu spät. Dabei hätte sich ein filmreifer Abend angeboten: Draxler trifft in seiner neuen Heimatstadt zum Ausgleich! Filmtitel: One Night in Paris – wenn der nicht schon vergeben ist.
Julian Brandt
Es ist nicht recht zu erklären, aber irgendwie traut Bundestrainer Löw dem Leverkusener nur Luft für acht Minuten zu. Brandt kam wieder sehr spät in die Partie und schmiss sich übermütig ins Getümmel. Wie ein Teenager, der zu spät zur Party kommt und alle Spirituosen ext, um auf den gleichen Pegel wie die anderen zu kommen. Ergebnis: ernüchternd – oder eben auch nicht.
Thomas Müller
Hat es sich wirklich ausgemüllert? Der Weltmeister von 2014 kam nur von der Bank und wurde damit wie schon bei der WM in Russland angezählt. Müller ist beileibe nicht mehr derselbe wie noch 2014, er hat einen Anti-Lauf. Doch abschreiben sollte man ihn nicht: Wir haben gelernt, dass seine Läufe – egal in welche Richtung – nicht vorauszusagen sind.