Pellegrino Matarazzo wuchs in New Jersey mit der Liebe zu Diego Maradona auf, wurde in der Oberliga Südwest angespuckt und hat den VfB Stuttgart zum Überraschungsteam der Saison geformt. Gespräch über einen ungewöhnlichen Lebensweg.
Dieses Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #231. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Pellegrino Matarazzo, haben Sie geweint, als Diego Maradona gestorben ist?
Es sind keine Tränen geflossen. Aber die Nachricht von seinem Tod hat mich sehr traurig gemacht.
Ihr Vater ist Fan des SSC Neapel. Als Maradona dort gespielt hat, waren Sie acht, neun Jahre alt und haben die Spiele sonntagmorgens in New Jersey angeschaut.
Ja, Maradona war eine prägende Figur in der Fußballgeschichte unserer Familie. Er hat aus dem SSC Neapel eine Spitzenmannschaft gemacht, die den Teams aus dem Norden in der Serie A die Stirn geboten hat. Nach seinem Tod hat meine Mutter mir Fotos von ihm geschickt und mein Bruder ein Lied über ihn.
Hat Ihre Begeisterung für Fußball Sie bei nicht-italienischen Freunden in den USA zum Außenseiter gemacht?
Ein bisschen schon. Als ich aufgewachsen bin, war Soccer nicht so angesehen, da musste man schon einige Kommentare einstecken. Aber mit der WM 1994 in den USA hat Fußball deutlich an Akzeptanz gewonnen.
Waren Sie damals für Italien oder die USA?
Das ist eine gefährliche Frage. Ich sage mal: für beide. Bei der WM 2006, als ich schon in Deutschland lebte, haben beide Mannschaften in Kaiserslautern gegeneinander gespielt, da war ich natürlich dabei.
Und für wen waren Sie?
Das 1:1 war aus meiner Sicht ein gutes Ergebnis.
„Ich habe an der Grenze zu Harlem gewohnt. Dort habe ich regelmäßig Schüsse gehört“
Stimmt es, dass Sie US-Amerikaner in erster Generation sind?
Ja, mein Vater stammt aus Avellino, meine Mutter aus einem Dorf in der Nähe von Salerno, sie haben sich in den USA als Teenies kennengelernt. In den 1960er Jahren sind noch viele Familien aus Süditalien nach New Jersey gekommen, bei uns gab es ein ganzes Viertel mit Neueinwanderern.
Blieb man da viel unter sich?
Das war schon so, vor allem in der Familie. Meine Mutter ist das jüngste von zehn Kindern, mein Vater hat drei Geschwister. Meine Onkels und Tanten hatten auch viele Kinder, und diese große Familie war unsere Gesellschaft. In der Schule hatte ich natürlich auch nicht-italienische Freunde, aber jeden Tag nach der Schule bin ich zu meiner Tante und habe mit den Cousins gespielt. Sonntags haben wir uns alle bei meiner Großmutter getroffen. Dann war das ganze Haus voller Kinder, und nach dem Essen sind wir in den Park, um Fußball zu spielen.
1995 sind Sie zum Studium nach New York gegangen. Wie haben Sie die damals noch wilde und gefährliche Stadt erlebt?
Man musste aufpassen, nicht in die falsche Ecke zu geraten. Ich habe in Manhattan in der Nähe der Columbia Universität gewohnt, an der Grenze zu Harlem. Mein Fenster ging nach Harlem raus, und ich habe regelmäßig Schüsse gehört, das war damals ganz normal.
Waren Sie selber jung und wild oder jung und vernünftig?
Sagen wir mal so: Wir waren schon oft nachts unterwegs, das Angebot in New York ist halt riesig. Ich habe auch einige Dinge gemacht, die ich in den ersten 17 Jahren meines Lebens nicht gemacht habe, aber so wild war das nicht. Einmal haben wir einen All-Night-Bike-Ride unternommen, also die ganze Nacht über Manhattan auf dem Fahrrad erkundet. Um fünf Uhr morgens haben wir auf der Straße ein Möbelstück gefunden, von dem einer meiner Freunde meinte, dass es ideal sei, um daraus eine Bar zu machen. Also haben wir es nachts durch die Stadt geschleppt und in unserem Wohnheim daraus die „Upper Ninety“ gemacht, eine Fußballbar, benannt nach dem oberen Torwinkel. Da haben wir dann immer Spiele im Fernsehen gezeigt.
Kam aus den USA nach Deutschland, um es im europäischen Fußball zu schaffen. Als Innenverteidiger kam er nicht über die Dritte Liga hinaus,profilierte sich aber in Nürnberg und Hoffenheim als Nachwuchstrainer, bevor er 2018 Co-Trainer von Julian Nagelsmann wurde. Als Chefcoach des VfB Stuttgart gelang ihm 2020 der Bundesligaaufstieg.
Was ist angewandte Mathematik, und warum haben Sie das studiert?
Angewandte Mathematik wird in der Finanzwelt, Elektrotechnik oder im Ingenieurwesen genutzt, und damit wollte ich mir verschiedene berufliche Optionen offenhalten. Außerdem fiel mir Mathematik leicht, obwohl ich dafür keine wirkliche Leidenschaft hatte.
Auf der Columbia University wird man angenommen, wenn man entweder sehr reich oder sehr talentiert ist. Da Sie aus bescheidenen Verhältnissen kommen – Ihr Vater ist Automechaniker und Ihre Mutter Büroangestellte –, was war Ihr besonderes Talent?
Ich brauchte einerseits gute Noten in den Zugangstests, aber mein besonderes Talent war Fußball. Jeder Student muss abgesehen von guten Zensuren noch einen Bereich vorweisen, in dem man gut ist, ob Musik oder Kunst. Mein Ticket für Columbia war Fußball.
Haben Sie mit einer guten Note abgeschlossen?
Ja, obwohl ich schlecht gestartet bin. In der Schule musste ich nie viel lernen, um weiterzukommen. Deshalb habe ich im ersten Jahr an der Uni die Vorlesungen nur sehr selten besucht. Ich dachte, es reicht, wenn ich ab und zu in die Bücher schaue. Aber das war nicht so, ich musste erst mal lernen zu lernen.
Wie wäre es eigentlich beruflich weitergegangen, wenn Sie mit 22 Jahren nicht nach Europa gegangen wären, um Fußballspieler zu werden?
Die Frage stellte sich damals nicht: Ich wusste von Anfang an, dass es Fußball sein würde. Das war selbst so, als ich Anfragen bekam, etwa in einer Investmentbank zu arbeiten.
Dann hätten Sie heute viel Geld und ein Wochenendhaus in den Hamptons.
Ja, das hätte schon passieren können.