Nachwuchsspieler fördern – auf und neben dem Platz. Das ist die erklärte Mission von RB Leipzig. Jetzt zeigen MDR-Recherchen, dass dafür zwar viel Geld in die Hand genommen wird, die Realität in der Jugendakadamie aber ganz anders aussieht.
Vor sechs Tagen war es endlich soweit: Mads Bidstrup zog sich die Trainingsjacke aus, darunter das Trikot mit der Nummer 53. Gerade hatte ihm Thomas Frank, sein Trainer, das Zeichen gegeben, sich bereitzumachen. Für diesen Moment hatte Bidstrup einen Großteil seiner Jugend aufgegeben, jeden Tag auf Trainingsplätzen gestanden, hierfür war er als Kind durch halb Europa gereist. Bidstrup ist 20 Jahre alt. Am Samstag absolvierte er seinen ersten Pflichtspieleinsatz als Fußballprofi. Sieben Minuten beim 5:0‑Sieg gegen Preston North End, zweite englische Liga in Brentford.
Normalerweise würde ein solches Debüt für Jubelstürme sorgen. Bidstrup ist schließlich einer, der es geschafft hat. Bei seinen Beobachtern aber könnte sein erster Einsatz für den FC Brentford für Stirnrunzeln gesorgt haben. Denn Bidstrup ist nicht irgendwer, beziehungsweise: Er war nicht irgendwer. 2018 wechselte er vom FC Kopenhagen in die Jugendakademie von RB Leipzig. Kolportierte Ablöse: 2 Millionen Euro. Dieser Wechsel galt als Ausrufezeichen im deutschen Jugendfußball. Leipzig, das war jetzt klar, würde bereit sein, richtig viel Kohle für hochveranlagte, aber noch zu entwickelnde Jugendfußballer in die Hand zu nehmen. Zwei Jahre später, im August 2020, wechselte Bidstrup dann für eine geringe Ablöse nach England, in die zweite Liga. Dass das Talent bei den Leipzigern nie zum Profieinsatz kommen würde, war absehbar. Zumindest wenn man die Recherchen von Sport im Osten kennt.
„Die Nachwuchsförderung bildet eine wichtige Grundlage für das Handeln unseres Clubs und soll maßgeblich den langfristigen Erfolg sichern“, heißt es großspurig auf der Website der Leipziger. Und: „Unsere Zielstellung ist es, eigene Nachwuchsspieler an den Profifußball heranzuführen.“ Wer nachrechnet, dem wird schnell klar: Vom Ziel, eigene Nachwuchsspieler an den Profifußball heranzuführen, könnte Leipzig nicht weiter entfernt sein. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass damit der eigene Profifußball gemeint ist. Null – so viele Eigengewächse haben den Durchbruch im Leipziger Profikader geschafft seit Gründung des Konstrukts. Nur zum Vergleich: Beim Lokalrivalen Dynamo Dresden spielten sich im gleichen Zeitraum zehn Jugendfußballer in den festen Stamm des Profikaders, so Sport im Osten.
Die Geschichte würde sich vielleicht weniger dramatisch lesen, wenn nicht Aufwand und Ertrag in einem so krassen Missverhältnis zueinander stünden. Denn für die Talente zahlt RB nicht nur aberwitzige Ablösesummen, auch danach sollen die Jungspunde finanziell reichlich bedacht werden. Sport im Osten schreibt, dass ein aktueller U19-Spieler, dessen Name der Redaktion vorläge, die Gehaltssumme von rund 8.000 Euro mit dem Handy abfotografiert und das Bild anschließend anderen Teamkollegen geschickt habe. So viel Geld für ein bisschen Jugendfußball, nur erben ist schöner. Ein anderer Spieler, der mittlerweile an einen niederländischen Klub ausgeliehen worden sei, soll zuvor mit einer Kreditkarte durch Leipzig gezogen sein. Geschätztes Monatsgehalt: 30.000 Euro.
„Am Leipziger Sportgymnasium kommt es deshalb zu teils absurden Szenarien, wenn der U17- oder U19-Kicker das Dreifache seines Lehrers verdient und nicht mehr die Notwendigkeit für Schullaufbahn und Unterricht sieht. Stattdessen definieren sich manche Jungstars über die Höhe des Lohnes“, schreibt Sport im Osten. Auf Anfrage dementiert RB Leipzig die genannten Gehaltszahlungen und spricht lieber von Ausnahmen wie zum Beispiel bei U19-Akteuren mit Lizenzspielerverträgen. Eines ist aber sicher, mit dem selbstverpassten Leitbild des Konstrukts, verantwortungsbewusste und selbstständige Persönlichkeiten zu entwickeln, dürften diese Geschichten eher nicht im Einklang stehen. Oder wie es ein Berater gegenüber Sport im Osten formulierte: „„Das ist völlig krank, Jugendlichen, die noch nichts erreicht haben, solche Gehälter zu geben. Es versaut den Leistungsgedanken. Wenn ein Spieler kein soziales Umfeld hat, das ihn erdet, ist er sofort verloren.“
Vom aggressiven Verhalten der Leipziger auf dem Jugendfußballmarkt berichtete 11FREUNDE schon im April 2018. Da hatte gerade eine „Materialschlacht“ begonnen zwischen RB und dem FC Bayern, die ihrerseits einen neuen Campus gebaut hatten und nun für viel Geld neue Kader für die Jugendmannschaften zusammenstellten. Illegal ist das nicht, auch bei anderen Klubs wie Bayer Leverkusen sind teils fünfstellige Gehälter geflossen. Oder wie Jonas Boldt, zu diesem Zeitpunkt Manager bei Bayer, es nannte: „Man muss den Spielern mit 16 Jahren vernünftiges Brot hinlegen.“
Jörg Jakobs, der zu diesem Zeitpunkt das Nachwuchsleistungszentrum des 1. FC Köln leitete, warnte schon damals vor den Methoden: „Oft genug sind für die Wechsel die Eltern anfällig, die sich vom Geld blenden lassen – oder es sogar nötig haben.“ Wie das aussehen kann, hatte abermals RB Leipzig bewiesen. Um sich die Dienste des sogenannten „Millennium-Kid“ Nicolas Kühn zu sichern, soll seine Mutter Sabine mit einem Jobangebot über 25.000 Euro jährlich gelockt worden sein. „… Wir nennen es mal ‚Rückenschule‘…“, hieß es wohlwollend in einer internen Mail. Darüber berichtete später unter anderem der Spiegel, der Fall landete auch wegen anderer Ungereimtheiten rund um Kühns Wechsel vor dem DFB-Kontrollausschuss. Kühn, das „Millenium-Kid“, spielt heute übrigens für den FC Bayern München – in der zweiten Mannschaft.
Aber in Leipzig scheint langsam etwas Verstand einzukehren. Trainer Julian Nagelsmann und Sportdirektor Markus Krösche sollen sich, so der MDR, für eine Senkung der Gehälter bei Jugendspielern eingesetzt haben. Und Geschäftsführer Oliver Mintzlaff hat in der Bild einen Strategiewechsel angekündigt, denn: „Bis jetzt war es so, dass sich das hohe Investment im Nachwuchs nicht ausgezahlt hat.“ Wobei das so ja nicht ganz stimmt. Schließlich verfügt der FC Brentford mit Mads Bidstrup jetzt über einen hochtalentierten Profifußballer – und gekostet hat er den englischen Verein auch nicht viel.