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Wenn Deutsch­land am Sonntag zum ersten Mal seit 80 Jahren wieder auf eine Natio­nalelf trifft, die Est­land reprä­sen­tiert, dann ist die Partie nicht allein des­wegen bemer­kens­wert. Unge­wöhn­lich ist auch, dass der Gegner ver­mut­lich die ein­zige Mann­schaft der Welt ist, die sich bei ihrem legen­därsten Spiel nicht mal im Sta­dion befand. 

Die Geschichte ereig­nete sich – oder besser: ereig­nete sich eben nicht! – am Mitt­woch, dem 9. Oktober 1996. Da stand in Est­lands Haupt­stadt Tal­linn das WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel zwi­schen den Gast­ge­bern und Schott­land auf dem Pro­gramm. Die Anstoß­zeit war auf 18:45 Uhr Orts­zeit fest­ge­legt worden, womit beide Ver­bände ein­ver­standen waren. Bis zum Tag vor der Partie. Da spielten die U21-Teams der zwei Länder gegen­ein­ander, und dem schot­ti­schen Chef­trainer Craig Brown kamen erste Bedenken wegen des Flut­lichts. Sie ver­schärften sich noch, als die A‑Mannschaft nach dem Ein­bruch der Dun­kel­heit auf dem Rasen des Kadrioru-Sta­dions trai­nierte. Mit Schre­cken stellten die Gäste fest, dass das eigent­liche Flut­licht so fun­zelig war, dass die Esten sich zusätz­liche Behelfs­schein­werfer aus Finn­land besorgt hatten. Und die hingen nach Mei­nung der Schotten so tief, dass die Tor­hüter geblendet wurden. 

Fax um 2 Uhr mor­gens 

Brown infor­mierte einen luxem­bur­gi­schen FIFA-Beob­achter mit dem schönen Namen Jean-Marie Gan­ten­bein, der um 20 Uhr ins Sta­dion kam, um die Anlage zu begut­achten. Gan­ten­bein schlen­derte über den Rasen und musste zugeben, dass die Beleuch­tung nicht höchsten Stan­dards ent­sprach. Trotzdem erklärte er, dass die Partie zur fest­ge­setzten Stunde statt­finden sollte. Nun berieten die Schotten bis tief in die Nacht, was zu tun wäre. Um 2 Uhr mor­gens schickten sie ein Fax an die FIFA, in dem sie erklärten, nur unter Pro­test anzu­treten. Kopien des Schrei­bens wurden Gan­ten­bein und dem jugo­sla­wi­schen Schieds­richter Miroslav Radoman unter den Türen hin­durch in die Hotel­zimmer geschoben. 

Am Morgen des Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiels erhielt Jim Farry, Geschäfts­führer des schot­ti­schen Ver­bandes, um 9 Uhr die Ant­wort der FIFA: Die Begeg­nung wurde auf 15 Uhr vor­ver­legt, damit ein even­tuell unzu­rei­chendes Flut­licht gar nicht erst ein­ge­schaltet werden musste. Um 10:30 Uhr trafen sich alle Betei­ligten im Sta­dion, um die Ent­schei­dung des Welt­ver­bandes nun end­lich auch den Esten mit­zu­teilen.

Die Haus­herren waren wenig begeis­tert von dieser Ent­wick­lung. Ainar Leppänen, der Gene­ral­se­kretär des Ver­bandes, erklärte, die est­ni­schen Spieler befänden sich in ihrem Trai­nings­camp, etwa 100 Kilo­meter von Tal­linn ent­fernt, und könnten nicht so kurz­fristig anreisen. Außerdem fürch­teten die Gast­geber, auf das Fern­seh­geld von der BBC ver­zichten zu müssen. Die hatte zwar die Rechte ein­ge­kauft, konnte aber nicht um 15 Uhr über­tragen, weil für diesen Zeit­punkt eine Trau­er­feier für die Opfer eines Amok­laufes ange­setzt war, die die Nation mehr bewegte als ein schnödes Fuß­ball­spiel.

Die Esten lehnten schließ­lich die Ver­le­gung der Partie kate­go­risch ab. Die Schotten hin­gegen pochten auf die neue Anord­nung der FIFA und berei­teten sich auf einen Anstoß um 15 Uhr vor. Wie Brown später sagte, war er sich ziem­lich sicher, dass die Esten nur blufften und schließ­lich doch antreten würden, um die Punkte nicht kampflos zu ver­lieren. Doch als die schot­ti­sche Mann­schaft um 13 Uhr am Sta­dion ein­traf, kamen ihm erste Zweifel. Die Anzei­ge­tafel war zwar ein­ge­schaltet, aber auf ihr stand klar und deut­lich: Eesti vs Sot­imaa – Kick off: 18:45.“

Browns Spieler inspi­zierten den Rasen, dann gingen sie in die Kabine und zogen sich um. Danach führten sie ihr regu­läres Auf­wärm­pro­gramm durch, bis ihr Trainer sie vom Feld rief, um die letzten tak­ti­schen Vor­gaben durch­zu­spre­chen. Außer den bri­ti­schen Spie­lern war noch das Schieds­rich­ter­ge­spann im Sta­dion, zudem etwa acht­hun­dert schot­ti­sche Fans. Erst sangen sie: Wir singen nur bei Tages­licht!“ Und dann: Ein Team in Tal­linn, es gibt nur ein Team in Tal­linn!“ Unter diesem Namen – One team in Tal­linn – ist der Tag schließ­lich auch in die bri­ti­sche Fuß­ball­ge­schichte ein­ge­gangen, denn als sich die Schotten um kurz vor 15 Uhr in ihrer Spiel­hälfte auf­stellten, war noch immer kein Gegner zu sehen.

Abpfiff nach drei Sekunden 

Stürmer Billy Dodds stand am Mit­tel­kreis, um den Anstoß aus­zu­führen. Er war vier Tage zuvor gegen Lett­land ein­ge­wech­selt worden, aber nun sollte er sein erstes Län­der­spiel von Beginn an bestreiten. Radoman pfiff die Partie pünkt­lich an. Dodds stupste den Ball zu John Collins, der zwei Schritte in Rich­tung geg­ne­ri­sches Tor machte. Da pfiff Radoman die äußerst ein­sei­tige Partie ab. Kapitän Collins riss jubelnd die Arme in die Höhe. Zu diesem Zeit­punkt waren die Esten noch immer in ihrem Sport­hotel. Erst eine Stunde später ver­ließ der Tross das Trai­nings­lager in Kehtna. Als das est­ni­sche Team um 17:15 Uhr im Sta­dion in Tal­linn ein­traf, war kein ein­ziger Schotte mehr zu sehen. Dafür erwachte das Flut­licht gerade fla­ckernd zum Leben.

Dieser bizarren Tag hatte noch eine Schluss­pointe zu bieten, von der man außer­halb Est­lands nur selten etwas hört. Um 19 Uhr trafen sich näm­lich Ver­treter von zwei est­ni­schen und einem fin­ni­schen Fern­seh­sender mit Chris Lewis, einem bekannten Pro­du­zenten von der BBC, im Sta­dion. Die Männer kon­trol­lierten unter nota­ri­eller Auf­sicht die Beleuch­tung und stellten fest, dass sie den offi­zi­ellen Min­dest­an­for­de­rungen der FIFA völlig ent­sprach. 

Nur knapp vier Wochen durften sich die Schotten über die drei Punkte freuen, die ihnen ihrer Mei­nung nach zustanden, weil der Gegner nicht ange­treten war. Anfang November ent­schied die FIFA, dass das Match an einem neu­tralen Ort wie­der­holt werden musste. Am 4. Februar 1997 trennten sich Est­land und Schott­land in Monaco mit 0:0. Held des Spiels war der est­ni­sche Tor­wart Mart Poom, der dank seiner Leis­tung sechs Wochen später zu Derby County in die Pre­mier League wech­selte. Bei Schott­land war Billy Dodds nicht mal im Auf­gebot.